Sonntag, 27. April 2008

Happy Birthday to me

Am 27. April 2008 habe ich den ersten Post in diesem Blog veröffentlicht. Seither sind sechzig weitere dazugekommen, mehr als einer pro Woche. Ein schöner Schnitt, finde ich. Und also entflamme ich ein Geburtstagskerzchen und stosse an auf ein zweites Jahr Phemios Aoidos. Ich freue mich auf die weitere Navigation durchs Meer der Kultur und auch darauf, die eine oder andere neue Idee auszuprobieren.

Χρόνια πολλά και να τα εκατοστίσω!

There Will Be Blood

Kritiker und Academy sind sich einig: Dies ist ein grosser Film. Ich meine: Dies ist ein Film, der mit seiner Geschichte, mit jeder Einstellung, mit Musik und Schnitt zu verstehen gibt, dass er ein grosser Film ist. Tatsächlich ist There Will Be Blood ein Monument, ein brachialer Brocken, mit Figuren von archaischer Grösse, Szenen von schneidender Brillanz und roher Gewalt. Erzählt wird die Geschichte des Ölbarons Daniel Plainview, der sich mit Bauernschläue und ohne jegliche Rücksicht vom einsam in der Wüste grabenden Silberschürfer zum Magnaten emporarbeitet. Dabei gibt er das Kind eines Kollegen, der im Schacht ums Leben kommt, kurzerhand als sein eigenes aus, um Sympathie zu schinden; er beherrscht alle Nuancen von Umgänglichkeit und Brutalität; er setzt alle Leute skrupellos ein und nutzt sie aus, um seinen eigenen Gewinn zu vergrössern.

Und trotzdem hat mich der Film nicht überzeugt. Das liegt hauptsächlich an zwei Gründen. Der erste ist Plainviews hauptsächlicher Antagonist bei der Ausbeutung der Erdölvorkommen in Little Boston, Kalifornien, der bigotte Eli Sunday, selbsternannter Pastor der Church of the Third Revelation: Ein Schatten von Mensch, zerdrückt, mit fisteliger Stimme, bei seinen Predigten aber aufs groteskeste überschäumend, wirkt er wie eine blutleere, billige Parodie auf einen Pfingstler - eine schwache Figur und keinesfalls ein ebenbürtiges Gegenüber des mit jeder Faser vibrierenden Plainviews, der von Daniel Day-Lewis nicht einfach gespielt, sondern im Wortsinne verkörpert wird. Und dann der Schluss: Nach einem (zugegebenermassen wunderschön inszenierten) Zeitsprung um 20 Jahre hört der Film in zwei kruden Szenen abrupt auf. Dabei kommen die Beziehungen Plainviews zu seinem Sohn und zu Eli Sunday zu einem Ende, das allerdings der kraftvoll und komplex aufgebauten und entwickelten Vorgeschichte überhaupt nicht gerecht wird.


Ein ganz anderer Gedanke hat sich in mir mit dem Film festgesetzt, einer zu unserer Nähe beziehungsweise Ferne zu den USA: Wie sollen wir, die wir mit Wilhelm Tell und dem Rütli, mit Sonderbund und Aktivdienst, mithin mit entweder sehr fernen oder relativ gesitteten Mythen aufgewachsen sind, je ein Volk verstehen, dessen kollektive Mythologie von einem in jeder Hinsicht extremen und brutalen Vorstoss ins Unbekannte geprägt ist, der gerade mal etwas mehr als hundert Jahre zurückliegt? In Diskussionen mit Amerikanern über Politik, Kultur oder eigentlich alles mögliche verstehen wir zwar die Worte; den Subtext, der von diesem so verschiedenen Hintergrund geprägt wird, können wir allenfalls erahnen, aber kaum mitfühlen.

Freitag, 11. April 2008

Göttinnen

Es ist nicht so lange her, dass sich die Theologische Fakultät der Universität Freiburg i.Ue. noch weniger durch Linientreue als hauptsächlich durch hochstehende, originelle Lehrer und Forscher auszeichnete. Einer der originellsten, vielleicht der wichtigste Freiburger Theologe der letzten Jahrzehnte, wirkte auf dem deutschsprachigen Lehrstuhl für Altes Testament: Othmar Keel. Sein bleibender Beitrag zur alttestamentlichen Forschung war es, die jüdischen Heiligen Schriften nicht als isolierte Einzelwerke zu sehen, sondern im Kontext der anderen Kulturen der Levante und des vorderen Orients zu verstehen. Bei der Erforschung dieses Kontext stützte er sich – das war das eigentlich Neue – in erster Linie auf die altorientalische Ikonografie ab, welche er für die Bibelwissenschaften fruchtbar machte. Er gab den Anstoss zu einer inzwischen um die 14'000 Objekte umfassenden Sammlung vorderasiatischer und ägyptischer Kleinkunst, die einerseits als Basis für die Forschung dient, anderseits dem breiten Publikum in Bälde auch in einem eigenen Museum, dem geplanten Bibel+Orient-Museum im Thierryturm neben der Universität Miséricorde, zugänglich gemacht werden soll (was übrigens, angesichts der europaweiten Einzigartigkeit dieses Schatzes, vollumfänglich berechtigt ist).

Ein Vorgeschmack daraus war zu Beginn dieses Jahres im Museum für Kunst und Geschichte Freiburg zu sehen (und ist jetzt unterwegs ins Diözesanmuseum Rottenburg). Die Ausstellung „Gott, weiblich“ fokussierte dabei auf weibliche Bilder des Göttlichen. Zu fünfzehn ausgewählten Aspekten wurden den altorientalischen Objekten aus der Sammlung jeweils Gegenstände des katholischen Kultes, insbesondere der Marienverehrung gegenüber gestellt, was zunächst einen (durchaus gewollten) augenzwinkernden Vergleichseffekt verursachte. Die Ausstellung ging aber in vielerlei Hinsicht darüber hinaus; einerseits religionsintern, anderseits religionsvergleichend. Lehrreich war für den gebildeten Laien der Nachweis, dass das Judentum keineswegs von Anfang an dem bekannten strikten Monotheismus anhing, dass vielmehr neben JHWH auch andere Gottheiten, insbesondere die Göttin Aschera, verehrt wurden. Lehrreich war die Präsentation der breiten Darstellungen des Weiblichen in den altorientalischen Institutionen. Lehrreich war dann besonders, dass bestimmte Aspekte von Kult und Glaubenspraxis, die im alten Orient mit weiblichen Gottheiten verbunden waren, im Katholizismus mit Maria in Zusammenhang stehen: die Familie und damit verbundene Sorgen und Leiden, aber auch die ikonografische Konnexion der Göttinnen mit den Sternen, die in den Beinamen Marias wie „Stella Maris“ oder in Darstellungen wie der Madonna von Lourdes Parallelen finden. Einmal mehr wurde schliesslich deutlich, dass Religionen wandelbar sind, Modelliermasse in den Händen der Mächtigen, wie des Jerusalemer Königs Joschija, dessen Reform von 622 v. Chr. die weltgeschichtlich entscheidende (Wieder-)Erfindung des Monotheismus bedeutete.

Die Ausstellung ist leicht zugänglich und didaktisch gut aufgebaut; sie beeindruckt durch die Fülle und kluge Auswahl ihrer Objekte und überfordert den Besucher nicht. Eher noch unterfordert sie ihn: Die knappen, informativen Einleitungstexte hätte ich auch mit Interesse gelesen, wenn sie doppelt so lange gewesen wären. Und dann hätte ich schon ganz gerne gewusst, wie die Wissenschaft diese vielfältigen Parallelen zwischen altorientalischen Religionen und dem Katholizismus westeuropäischer Prägung erklärt. Sind es einfach Zufälligkeiten, religiöse Gemeinplätze gewissermassen; ist die Gegenüberstellung mithin leicht tendenziös? Oder steckt mehr dahinter, gibt es Verbindungen, Entwicklungslinien? Letzteres vor allem wäre interessant zu wissen und ein fruchtbarer Input für weitere Diskussionen. Ich hoffe auf den Katalog, der bisher erst auf Französisch vorliegt, für die Ausstellung in Rottenburg dann aber auch ins Deutsche übersetzt werden wird.


Technisches: Die Ausstellung „Gott, weiblich“ hat im Museum für Kunst und Geschichte Freiburg ihre Tore geschlossen und ist jetzt unterwegs ins Diözesanmuseum Rottenburg, wo sie vom 6. Mai bis zum 3. August 2008 zu sehen sein wird. Der Katalog ist beim Bibel+Orient-Museum in Freiburg erhältlich.

Sonntag, 6. April 2008

Dekonstruktion des Triumphes

Zwei Dinge interessieren mich besonders, wenn ich eine Geschichte, die ich schon kenne, ein weiteres, drittes, viertes Mal von anderen erzählt oder aufgeführt bekomme: Finde ich das wieder, was ich bei den vorangehenden Malen erkannt habe? Und entdecke ich etwas Neues, einen unbekannten, bisher übersehenen Aspekt der altbekannten Geschichte? Am Luzerner Theater wird Euripides’ Medea inszeniert, und der Vergleich mit der Berner Version an der Effingerstrasse vom letzten November, aber auch mit der wiederholten Lektüre des Werks, ist in beiderlei Hinsicht aufschlussreich.

Bestätigt, ja in der Luzerner Textfassung noch zugespitzt, fand ich die absolute Stringenz der Fabel. Eine am Boden zerstörte Medea entwickelt erst nur schematisch, bald aber verfeinert und ausgeklügelt ihren Racheplan. Dabei hat sie keine ruhige Minute. Die Ereignisse überstürzen sich, die Besucher geben sich die Klinke in die Hand; in äusserster Bedrängnis, ständig einen Schritt vor dem Abgrund, muss die kolchische Königstochter blitzschnell reagieren, und gleichsam improvisierend setzt sie die Elemente ihres Plans zusammen, mit dem sie, die Betrogene, Beschimpfte, Verbannte, sich gleichzeitig an Jason, ihrem Betrüger von Ehemann, an dessen neuer Braut Kreusa und deren Vater Kreon, dem König von Korinth, rächen wird.

Was mir gleichzeitig neu aufgefallen ist (vor allem in dieser Konsequenz), ist die totale Dekonstruktion des Triumphes. Denn um ihren treulosen Gatten Jason so empfindlich wie möglich zu treffen, muss Medea nicht ihn umbringen, sondern die beiden gemeinsamen Kinder. Dieser Racheplan ist genial, überzeugend und wirkungsvoll – aber unmenschlich brutal. Die Brutalität wirft ihre Schatten voraus, wenn sich Medea gegenüber ihren Freundinnen aus Korinth zu rechtfertigen versucht, und in den herzzerreissenden Abschiedsszenen mit den Buben. Im Moment dann, als klar wird, dass der Plan aufgehen wird; im Moment, da Medea erfährt, dass Jasons Braut und Schwiegervater elend umgekommen sind; im Moment mithin, in welchem es nur noch gilt, diesen letzten brutalen Mord zu begehen, um definitiv über den Gegner zu triumphieren – da verpufft der Triumph. Er findet schlicht nicht statt. Während der schockierte Bote den Tod des Königs und seiner Tochter rapportiert, fällt Medea am Bühnenrand in sich zusammen, spricht kein Wort; nur noch Leere. Und wo die Kolcherin bei Euripides im Sonnenwagen hoch über Jason emporsteigt und seine bitteren, frustrierten Vorwürfe mit Verve pariert, ist er es in Luzern, der von der Schrägbühne heruntersinkt, währenddem sie einfach dasteht. Keine fulminante letzte Konfrontation, nur ein letztes Aneinander-Vorbeireden, ein kurzer, resignierter Austausch ungelenker Worte, dann geht das einstige Traumpaar auseinander. Die Schlussworte des Chors, die ich bei Euripides als leicht ironiedurchsetzten Kommentar zur Bestrafung der Frevler und zur Wiederherstellung der Ordnung gelesen hatte, werden hier zu einem entsetzten Resümee des Schreckens:

Vieler Dinge Verwalter ist Zeus im Olymp,
vieles wirken unverhofft die Götter,
und was man erwartet, vollendet sich nicht,
für das Unerwartete aber findet Gott einen Weg.
So nun verlief diese Handlung.

Die Luzerner Inszenierung überzeugt durch eine starke, ausgeglichene Besetzung. Anja Schweitzer lässt ihre Medea hart an der Grenze der Verzweiflung und trotzdem jederzeit dominierend und genau berechnend agieren. Die Übersetzung von Peter Krumme schliesslich hält in wunderbarer Art die Balance zwischen poetischer Qualität, Verständlichkeit und Treue zum Original.


Technisches: Euripides’ Medea, in der Inszenierung von Irmgard Lange, steht am Luzerner Theater noch bis am 18. Mai 2008 auf dem Spielplan.

Mittwoch, 2. April 2008

Don’t see what anyone can see in anyone else but you

Bitte zuerst etwas Musik auflegen: zum Beispiel „Anyone else but you“, „All I want is you“, „Tyre swing“ oder „Tree hugger“. Gehen die Mundwinkel nach oben? Leuchten die Augen? Klart der Geist auf? Das ist der Juno-Effekt. Der Überraschungsfilm des letzten Jahres skizziert mehr als er erzählt mit unerhörter Leichtigkeit, grossem und absurdem Humor und viel Liebe die Geschichte der sechzehnjährigen Juno MacGuff, die bei der tatkräftigen Verführung des scheuen Paulie Bleeker ungewollt schwanger wird. Nun hätte ein Film über eine Teenagerschwangerschaft, natürlich, das Potential zum Melodrama, zur Sozialtragödie oder zur Teenieklamotte. Aber das frische Drehbuch der unglaublichen Debütantin Diablo Cody, die dafür den Oscar verdiente, vermeidet die allseits dräuenden Fallen. Stattdessen sehen wir amüsiert und zunehmend gebannt eine Wucht von Protagonistin, Ellen Page, als rebellisch-rotzlöfflig-sarkastische Juno mit umwerfender Präsenz und ständig wachsendem Bauch durch ihre kleine Welt stapfen; und anstatt an ihrem nun wahrlich nicht ganz einfachen Schicksal zu verzweifeln (ich erwähne nur ein hamburgerförmiges Telefon und eine Abtreibungshelferin auf Drogen), meistert sie es mit einer Unbekümmertheit, die verblüfft und unterhält und berührt. Gelacht wird viel, aber „Juno“ ist keine platte Komödie; und wenn viele der Figuren auch schräg bis schrill und beileibe nicht ohne Klischees sind, werden sie dennoch nicht blossgestellt, sondern behutsam und zärtlich in ihre Rolle gekleidet und an ihren Platz gestellt: Junos Eltern meistern ihren Schock mit viel Weisheit und Liebe und ab und zu einem deftigen Fluch; die potentiellen Adoptiveltern Mark und Vanessa, ein Yuppie-Pärchen, hätten sich viel zu sagen und zu erklären, tun das nicht eigentlich, bleiben aber im dadurch wachsenden Schlamassel letztlich trotzdem nicht stecken; und Junos beste Freundin Leah hat alle Voraussetzungen zur Tussi, ist aber eine grossartige Begleiterin. Wenn man dem Film etwas vorwerfen kann, dann allenfalls dies: dass er einige Figuren und ihre Regungen allzu flüchtig skizziert. Was nun zum Beispiel Juno und Bleeker wirklich verbindet, was ihre Zuneigung über eine Laune heraushebt und Juno zu ihrer berührenden Liebeserklärung veranlasst, muss man hauptsächlich erraten. (Ja, ja, ich weiss schon – die Magie der Liebe halt. Und vielleicht bin ich auch einfach rückwirkend neidisch, dass die scheuen Teenie-Sonderlinge in Film und Fernsehen immer die coolen Mädchen abkriegen, was meiner Erinnerung an die Realität doch stark widerspricht.)

Abgerundet wird der Film durch die Trällerliedchen von Kimya Dawson und The Moldy Peaches; nicht einfach nur Soundtrack, sondern Stimmungserzeuger, die die Leichtigkeit der Bilder auf der Tonspur duplizieren. Dass ein solcher Film einen Nerv zu treffen scheint, dass er ein so vielfältiges Publikum begeistert (93% Zustimmung auf Rotten Tomatoes, von der A-Liste der Kritiker liest man dort kein einziges schlechtes Wort), ist eine der besten Nachrichten aus der Kinowelt der letzten Zeit.


[UPDATE: Diablo Codys Blog scheint ein unstetes Schicksal zu haben; der Link wurde ersetzt durch ihre MySpace-Seite.]