Donnerstag, 8. Mai 2008

Homerische Highlights

Ohne Grossproduktionen scheint in der Museumswelt zurzeit nichts mehr zu gehen. Multimediale Ausstellungsereignisse, durch ihre schiere Grösse oder die Auserlesenheit ihrer Objekte zum Spektakel geadelt, mit Hilfe potenter Sponsoren schweizweit flächendeckend beworben, sind inzwischen mindestens für die wichtigen Museen im Land eher die Regel als die Ausnahme. Man verstehe mich nicht falsch: Ich will hier für einmal nicht in Kulturpessimismus machen. Der Trend zur Grösse bringt nämlich zwei wesentliche Vorteile mit sich. Einerseits erleichtert er es, ein bestimmtes (zugegebenermassen meistens bereits relativ populäres) Thema in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken; anderseits bringen Grossausstellungen häufig das nötige Gewicht auf, um potentiellen Leihgebern auch zentrale Stücke ihrer Sammlungen abzuluchsen; sie ermöglichen dem interessierten Laien mithin Begegnungen mit Werken, für die er ansonsten hunderte von Kilometern zurücklegen müsste, oder Gegenüberstellungen, die einzigartig sind und es lange bleiben werden.

Beides trifft in besonderer Weise zu auf die grosse Homer-Ausstellung, die zur Zeit im Basler Antikenmuseum gezeigt wird. Ort und Zeit sind nicht ganz zufällig. Die letzten Jahre brachten, unter anderem mit den neuen Tübinger Grabungen in Hisarlik und durch ein enges Zusammenwirken von Philologie, Archäologie, Hethitologie und anderen Wissenschaften wesentliche Fortschritte bei der Klärung unseres Verständnisses von der Stadt am Hellespont als Kulisse für die Epen Homers. Und das Basler Seminar für Klassische Philologie spielt in diesen Forschungen einen wichtigen Part, besonders durch das monumentale Vorhaben der Neuerarbeitung eines wissenschaftlichen Ilias-Kommentars, des Neuen Ameis-Hentze. Spiritus Rector dieses Unternehmens und auch der Ausstellung ist der emeritierte Basler Gräzist Joachim Latacz, nicht nur ein massgebender Homer-Forscher, sondern zugleich ein exzellenter Didaktiker, der mit schwungvollem Stil und präziser Argumentation die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfasst und verständlich macht. Seine Handschrift prägt auch die Texte der Ausstellung, welche somit wie aus einem Guss durch Homers Welt und Werk führt. Homers Welt muss natürlich in doppeltem Sinn verstanden werden: die Welt (und Zeit), in der Ilias und Odyssee entstanden sind, und die Welt (und Zeit), auf die sie inhaltlich verweisen. Diese beiden Welten bilden den Ausgangspunkt und ersten Teil der Ausstellung. Der zweite, ausführlichere Teil ist den beiden Epen selber gewidmet: ihrer Handlung und Rahmenhandlung, wie sie aus den Zeugnissen der antiken Kunst aufscheinen, und ihrem Nachleben in römischer, mittelalterlicher und moderner Zeit. Hier brilliert die Ausstellung mit ihrem Renommee: Um die Kampfhandlungen vor Troja zu illustrieren, hätte man in Basel nur ins Museumsdepot hinuntersteigen müssen und etliche geeignete Objekte gefunden – aber wenn man die meisterhafte Berliner Schale mit Achilleus und Patroklos kriegt, sagt man gewiss nicht nein. Ebenso existieren zweifellos unzählige Darstellungen von Sirenen – aber wenn das British Museum seinen berühmten Stamnos rausrückt, lässt man sich nicht zweimal bitten. Diese und ähnliche Meisterwerke werden mit souveränem Understatement präsentiert, zum allerhöchsten Vergnügen des Archäologen und jedes anderen Besuchers mit sicherem Auge für das Schöne.

Und damit zurück zu meiner Anfangsbemerkung. Eine Ausstellung zum einflussreichsten Dichter des alten Griechenlands ist per se keine besonders originelle Idee. Aus diesem Aufhänger jedoch eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu entwickeln, diese nach allen Regeln der Kunst zu illustrieren und einem breiten Publikum vorzustellen, ergibt ein genuines Highlight der diesjährigen Ausstellungslandschaft.


Technisches: Die Ausstellung „Homer – Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst“ ist noch bis am 17. August 2008 im Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig zu sehen und wird danach vom 14.9.2008 bis am 18.1.2009 im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim gastieren. Zur Ausstellung ist ein gewichtiger (3 kg) und standesgemäss ausgestatteter Katalog erschienen, der ebenfalls wärmstens empfohlen werden kann: Homer – Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst. Katalog zur Sonderausstellung. München, Hirmer 2008. ISBN 978-3-7774-3965-5.

Freitag, 2. Mai 2008

Fauré ou „L’Esprit français“

Es war etwas Nostalgie dabei, als ich am Samstag Abend den steilen Weg zum Collège St-Michel in Fribourg hochging. In den späten Neunziger Jahren hatte ich selber vier Jahre lang im Coeur de l'Université et des Jeunesses Musicales gesungen, und nun besuchte ich seit Jahren wieder einmal sein Jahreskonzert. Unter Pascal Mayer sangen wir damals hauptsächlich die grossen Klassiker der Chorliteratur, von Mozarts Requiem bis Rossinis Stabat Mater, und zwar mit Mammutbesetzungen – gelegentlich (zusammen mit dem Chor von Sainte Croix) die geballte Wucht von zweihundert Sängerinnen und Sängern. Der Dirigent Jean-Claude Fasel, der den Chor im Jahr 2000 übernommen hat, beweist in seiner Programmgestaltung ein besonderes Interesse für weniger geläufige Musik. Und der Unichor 2008 umfasst noch 70 Kehlen. Beides – Repertoire und Grösse – tun dem Chor gut. Unter dem Titel Gabriel Fauré ou „L’Esprit français“ galt es dieses Jahr, die Messe des Pêcheurs de Villerville, den Cantique de Jean Racine und das Requiem dieses französischen Romantikers zu entdecken. Faurés Musik ist melodiös, passagenweise schwelgerisch und gleichzeitig völlig unprätentiös. Exemplarisch wurde dies gleich im ersten Werk deutlich, dieser „petite messe de vacances“, wie das Programmheft passend anmerkt, diesem Ferienwerk von Fauré und André Messager, das sie an der normannischen Küste, in Villerville, quasi frisch von der Leber weg für den örtlichen Fischereiverband schrieben und von einigen Frauen des Ortes aufführen liessen. Der Chor beeindruckte mit einem unglaublichen Dynamikumfang, mit Präzision und schön gestalteten Bögen in dieser von Jean-Claude Fasel eingerichteten Version für gemischten Chor und kleines Orchester.

Den Höhepunkt des Konzerts stellte für mich der Cantique de Jean Racine dar, ein kurzes, knappes Jugendwerk, die Vertonung einer Hymnenübersetzung von Racine; eines jener Werke, in denen kein Ton zu viel und keiner am falschen Platz ist, in denen sich alles zu vollendeter Schönheit fügt. Zum krönenden Abschluss folgte das Requiem op. 48 in der Version von 1893. Das Werk ist durchdrungen von jener aussergewöhnlichen Klarheit und Gelassenheit, die mir für viele Totenmessen charakteristisch scheint, als führe die musikalische Auseinandersetzung mit dem Tod zu einem tieferen Verständnis, welches Normalsterblichen abgeht. Zum Unichor und dem Orchestre de Chambre de Neuchâtel traten hier in kurzen Passagen die Sopranistin Anna Stolarczyk und der Bariton Fabrice Hayoz, beides sehr junge Stimmen, die nicht mit Kraft, sondern mit Innigkeit das ausdrückten, was der Komponist zu seinem Requiem gesagt hat:

„...quelqu'un l'a appelé une berceuse de la mort. Mais c'est ainsi que je sens la mort: comme une délivrance heureuse, une aspiration au bonheur d'au-delà, plutôt que comme un passage douloureux.“

Ich habe mich sehr gefreut, den guten alten Unichor in so beneidenswerter Form zu erleben. Um etwas Negatives zu schreiben, müsste ich die quälenden Kirchenbänke von St-Michel bemühen; das Konzert selber war ein seltener, vollständiger Genuss.