Montag, 30. November 2009

Jocaste Reine

Auf der Bühne des Théâtre des Osses öffnet sich der schwere, dunkelrote Vorhang, enthüllt eine Reihe von Schleiern. Einer nach dem anderen wird weggezogen, bis endlich der Blick frei wird in den Königspalast von Theben, ins Schlafzimmer von Iokaste und Ödipus. Endlich einmal sehen wir Ödipus nicht als König von Theben, sondern als liebenden Menschen. Und endlich nimmt Iokaste Fleisch und Blut an, lacht und weint, säuselt und streichelt. Die Mutter und Frau des Ödipus spielt eine Schlüsselrolle in einem der wirkmächtigsten Mythen der Dramengeschichte und blieb dennoch bisher immer seltsam blass, nicht mehr als eine Dialog-Sparring-Partnerin für ihren Sohn und Mann. Gleichsam den Schleier über ihrem Leben wegzuziehen, das war der Wunsch der Theaterleiterin und Regisseurin Gisèle Sallin. Sie bat die kanadisch-französische Autorin Nancy Huston um ein Stück über Iokaste; diesen Herbst nun wird Jocaste Reine in Givisiez uraufgeführt.

Es ist, als ob irgendwo hinter der Bühne Sophokles’ König Ödipus gespielt würde und wir von innen, von den Privatgemächern aus zuschauen würden: So eng folgt Hustons Stück der Fabel der klassischen Vorlage. Wir entdecken aber fernab von staatlichen Repräsentationsfiguren ein zärtlich-vertrautes Liebespaar und eine funktionierende Familie, fröhlich und kommunikativ. Nancy Huston hat in genialer Art dem bekannten Mythos lediglich eine Ergänzung hinzugefügt, um die Ausgangslage für ihr Spiel zu schaffen: Iokastes Ehemann, König Laios, war ein tyrannischer Päderast. So wird sein gewaltsamer Tod für seine Witwe zur Erlösung, ihre Weitergabe als Trophäe an den Rätsellöser Ödipus zum Beginn von zwanzig Jahren Liebesglück. So werden die bekannten Themen neu durchgenommen, beleuchtet und analysiert.

Aus der Überfülle von Einflüssen und Anspielungen schälen sich für mich drei Interpretationslinien heraus. Die erste ist der alte Streit um die Bedeutung und Rolle der Abstammung, der Gene (um es modern auszudrücken). Hustons Ödipus ist wie derjenige des Sophokles ein getriebener, von Selbstzweifeln benagter. Waren denn wirklich Polybos und Merope in Korinth seine Eltern? Was legitimiert ihn zum König von Theben, wenn es doch nicht das Blut ist? Muss er sich wirklich, wie er es tut, durch seine Weisheit, seine Fürsorge für die Thebaner unermüdlich selbst legitimieren? Und was ist die Wahrheit, die er so verzweifelt sucht? Mit entwaffnend einfachen Überlegungen entkräftet Iokaste diese Zweifel: Haben nicht Polybos und Merope ihn getröstet, als er traurig, ihn gepflegt, als er krank war? Haben sie nicht als Eltern an ihm gehandelt? Dann sind sie seine Eltern! Und wieder: Die Wahrheit –

Laquelle? Celle des mots ? ou celle de la vie ?
Elle est là, la vérité : devant toi, en toi, tout
autour de toi, si seulement tu pouvais la voir !
Depuis vingt ans on l’a bâtie ensemble,
cette vérité : labeurs, fêtes, repas, gouvernement,
les yeux dans les yeux, la main dans la main…

Gewiss, « il existe bien des vérités » - und weshalb soll diejenige der Gene wahrer sein als diejenige des Lebens? So findet die existenzielle Grundfrage der Figur Ödipus eine neue Antwort.

Dann ist Jocaste Reine, zweitens, ein feministisches Stück. Die Männer sind (ausser Ödipus) wenig präsent – die Königssöhne Eteokles und Polyneikes sehen wir fast nur in wort- und atemlosen Kampfszenen, die als spielerische Raufereien beginnen und immer ernster werden, um in einer brutalen Andeutung des späteren Brudermordes zu gipfeln. Breiten Raum nehmen hingegen die Sorgen, Hoffnungen und Erlebnisse der Frauen ein; zuvorderst diejenigen von Iokaste. Bald sechzigjährig, blickt sie auf ein reiches Leben zurück, auf das lange, stumme Leiden mit Laios, auf das Glück mit Ödipus. Ihre Töchter Antigone und Ismene versuchen sich derweil, liebevoll begleitet von ihrer Mutter und der treuen Amme Eudoxia, an der Definition ihrer Rolle als Frauen in männerdominierter Welt. Das ist alles nicht ganz frei von Klischees (zum Beispiel in der Szene am Waschtag, in der sich alles ums Blut dreht – das Kampfblut der Männer, das Menstruationsblut der Frauen), die aber so umstandslos und stringent eingebettet sind und gespielt werden, dass ein Gefühl von ideologischer Schwere kaum aufkommen kann. Im Gegenteil: Die Geschlechterthematik ist in der Ödipustragödie von Anfang an angelegt; dass sie explizit zum Thema gemacht, verdeutlicht und beleuchtet wird, ist ein wesentlicher Beitrag an die jahrtausendealte Interpretation.

Und eine drittes Motiv ist die Mythenkritik. Denn ein weiteres Detail hat Huston maliziös der traditionellen Geschichte hinzugefügt: Laios war – unfruchtbar, Ödipus in Wahrheit der Sohn seines Liebessklaven, entstanden aus der verzweifelten Umarmung zweier misshandelter Wesen. So stürzt die Logik der hochheiligen Orakel in sich zusammen. So erhält die scharfsinnige Kritik Iokastes am delphischen Gott, die bei Sophokles brutal ins Leere läuft, ihre Grundlage. So ist auch der Chorführer legitimiert, der sich (eine Art Satyrspiel mitten in der Tragödie) einem Hofnarren gleich immer wieder ans Publikum wendet und sich pointiert über die althergebrachte Geschichte mokiert. Seine Einwürfe waren mir oftmals zu abrupt komisch in diesem tragischen Stück. Aber sie stehen in bester Brechtscher Tradition der Verfremdungseffekte, die uns, das gebannt lauschende Publikum, ohne Unterlass aufwecken und aufrütteln, damit wir uns nicht nur von der Stringenz der Geschichte verführen lassen, sondern den kritischen Verstand eingeschaltet lassen.

Die magistrale Inszenierung im Théâtre des Osses lebt von den grossartigen Schauspielerinnen und Schauspielern. Zuerst zu nennen ist natürlich Véronique Mermoud, die sich ihre Jocaste mit jeder Faser ihres Körpers und jeder Regung ihrer Seele aneignet, die gleichsam ohne Netz und doppelten Boden ihre ganze Persönlichkeit in diese Figur legt. Olivier Havran ist ihr als Œdipe ein vertrauter Partner und Liebhaber, dem Zweifel und Erkenntnis in schmerzhafter Deutlichkeit feine und immer gröbere Risse in die Seele reissen. Franck Michaux gibt den Coryphée (Chorführer) mit Esprit und Eloquenz. Die Königskinder und die Amme lassen auf der Bühne eine mühelose, unbeschwerte Vertrautheit entstehen. Mit gewaltiger Präsenz bringt das Ensemble ein reiches Stück fast ohne Längen zum Leben. Dem faszinierenden Mythos ist eine neue, magistrale Interpretation hinzugefügt worden.


Technisches: Jocaste Reine wird im Théâtre des Osses in Givisiez noch bis Ende Jahr gespielt. Das Stück von Nancy Huston ist bei Actes Sud in der Reihe « un endroit où aller » erschienen (ISBN 978-2-7427-8598-8).
Als Spiegel für Hustons Interpretation der Ödipus-Tragödie zeigt das Théâtre des Osses gleichzeitig das sophokleische Original – dazu in Bälde mehr auf diesem Blog.

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