Sonntag, 16. Mai 2010

Feuchter Nebel über grauer Stadt

Der Name der Stadt Triest weckt bei mir die Assoziation von Melancholie und verfallender Grandezza. Da bin ich offenbar nicht der einzige. (Kunststück – ich war noch nie dort, und irgendwoher muss ichs ja haben...) Edith Kneifls Krimi Triestiner Morgen spielt an Allerheiligen 1994 in und um Triest, und in den leerstehenden Lagerhallen, baufälligen Schlössern, auf verlassenen Plätzen und rostigen Parkbänken lässt sie einen illusions- und sinnlosen Rachefeldzug sich entfalten. Nach zwanzig Jahren Knast für den angeblichen Mord an seiner Geliebten kehrt Enrico an die Orte seiner Jugend und seiner Liebe zurück, um die damals offen gebliebenen Rechnungen zu begleichen.

Fast hätte ich das Buch ja schon nach den ersten paar Sätzen wieder weggelegt. Die Sprache ist bemüht betulich, tönt passagenweise nach Schulaufsatz. „Erinnerungen an manch geleerte Flasche tauchen auf“ – das steht da tatsächlich auf der zweiten Seite, ohne Witz! Und als gleich danach eine blonde Frau im Pelz das verrauchte Bahnhofscafé betritt, wird die Klischeedichte so unerträglich, dass nur der Respekt vor L., die mir das Buch geliehen hat, mich davon abhält, es umgehend aufzugeben. Sprachlich geht es auf den hundertachtzig verbleibenden Seiten leider oft ähnlich weiter, mit psychologisierenden Dialogen und gelegentlich schablonenhaft tiefsinnigen Überlegungen. Trotzdem hat sich die Lektüre gelohnt. Kneifl schafft nämlich auch so packende Szenen wie die Abrechnung zwischen Enrico und seinem Jugendfreund Michele, die sie im immer verbisseneren Hin und Her eines improvisierten Tischtennis-Matches inszeniert. Sie lässt in Rückblenden die ferne Hauptfigur, die mit dem Feuer spielende Geliebte, zu Wort kommen und kombiniert ihre maliziösen Bemerkungen fliessend mit der Rachehandlung und dem philosophischen Kommentar im Bahnhofscafé. Sie zitiert souverän und unpathetisch aus Verdis Nabucco und (im Angesicht von Schloss Duino) aus Rilkes Duineser Elegien. Vor allem aber schafft sie eine Atmosphäre, die einem wie feuchter November den Rücken hinaufkriecht. Es passiert eigentlich fast nichts. Oder vielmehr: Alles, was passiert, passiert so gleichgültig und distanziert wie hinter dichtem Nebel versteckt; fast resigniert, ohne Aufhebens. Vielleicht wird dabei das klassische Triestiner Klischee etwas gar strapaziert, aber im Neonlicht des Cafés, in den grauen Strassen und den verregneten Hügeln entsteht ein desillusioniertes Bild von der Unmöglichkeit, Gut und Böse voneinander zu scheiden.


Technisches: Edith Kneifl, Triestiner Morgen. München/Zürich, Diana 2001. ISBN 3-453-17981-1. Das Buch scheint vergriffen zu sein; Bibliotheken, Antiquariate oder Amazon helfen weiter.

Montag, 10. Mai 2010

Schweizer Reize

Nein, dies ist kein Boulevard-Blog geworden, und es geht hier auch nicht um Michelle Hunziker. Schweizer Reize ist vielmehr der Titel einer Ausstellung über die Reiseführer-Sammlung der Schweizerischen Nationalbibliothek. Empfangen wird man dortselbst im hellen Gang vor dem Ausstellungsraum von Plakaten aus mehreren Jahrzehnten Tourismuswerbung; dazwischen bereiten Zitate aus zwei Jahrhunderten Reiseliteratur auf die eigentliche Ausstellung vor (mein Favorit, zeitlos: „Wer in kurzer Zeit die ganze Schweiz bereisen, dabei viel sehen und geniessen will, der bedenke, dass er zu Hause zum Schlafen wieder Zeit genug hat.“ Richard Noë, Die Schweiz in 15 Tagen mit Generalabonnement genussreich und billig zu bereisen. Freiburg/Leipzig, 1914/15). Im abgedunkelten Hauptraum wird unser Land dann von Nord bis Süd, von West bis Ost zweifach durchmessen, und diesem roten Faden nach sind die Reiseführer aufgereiht und aufgeschlagen. Da präsentiert sich geballt die ganze Vielfalt dieses Genres. Sicher ein Dutzend Sprachen sind vertreten, und es scheint kein Spezialinteresse, keine Fortbewegungsart zu geben, die nicht einen eigenen Führer rechtfertigen würden. Fast schon paradoxerweise äussert sich auch die bewusste Alternative zum Massentourismus wiederum in einer besonderen, reichhaltigen Kategorie von Publikationen.

Den Wänden entlang vertiefen thematische Vitrinen die Geschichte dieser Gebrauchsliteraturgattung. Man erfährt, dass ihre Anfänge in Reisetagebüchern des 18. Jahrhunderts liegen, welche den noch wenigen Reisenden einen Grundstock an Informationen und Hilfestellungen boten. Es wird klar, dass die Touristen dieser Frühzeit sehr selbständig unterwegs waren. So sind in der Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweiz zu reisen von Johann Gottfried Ebel (1793) die Ortschaften alphabetisch angeordnet, auf dass jeder zwanglos das herauspicke, was ihn gerade interessiert. Die für heutige Reiseführer so charakteristische Ordnung nach Regionen und vor allem nach vorausgeplanten Reiserouten verdanken wir dem Engländer John Murray und einem immer noch bekannten Namen, dem Deutschen Karl Baedeker. Die ausgestellten Baedeker vom 19. bis ins 21. Jahrhundert zeigen sehr schön auf, wie die anfänglich literarisch-blumige Sprache nach und nach dem typischen neutral-distanzierten Reiseführer-Duktus weicht, welcher in allerletzter Zeit wieder von einem locker-originellen Umgangston abgelöst wird. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Benutzerfreundlichkeit stetig verbessert wurde. Handlichkeit und Stabilität waren von allem Anfang an Grundvoraussetzungen. Die Bleiwüsten der Anfangszeiten hat schon Baedeker mit ersten Symbolen (darunter dem Vorgänger aller Sternchen-Bewertungssysteme) aufgelockert; und heutige Reiseführer bestehen ja, wie mir scheint, hauptsächlich noch aus Grafiken, Info-Kästen und den Top Ten der Redaktion...

So haben die Nationalbibliothek und der erfahrene Kurator Beat Gugger das Langeweilepotential einer Bücherausstellung geschickt umschifft. Anhand der Reiseführer geben sie einen breiten und spannenden Einblick in die Geschichte des Reisens und des Tourismus. Vieles wird mit der Zeit repetitiv, einzelnes bleibt besonders hängen, so die Erläuterungen zur Reisezeit (per Dampfboot und Kutsche) von Zürich ins Bündnerland im 19. Jahrhundert. Am meisten bewegt hat mich jedoch ein ganz spezieller Reiseführer; einer, der sich nicht an Touristen wendet, die in die Schweiz reisen, sondern gewissermassen an ihr Spiegelbild: Der Führer für Tessiner Amerika-Emigranten erläutert knapp und schnörkellos, dass nach Basel direkte SBB-Wagen verkehren, dass man dort im nahen französischen Bahnhof den Zug nach Paris nehmen muss, und wie man dann weiter nach Le Havre oder Cherbourg gelangt. Dort, wo kein Reiseführer die Touristen hinlockte, war also noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Auswanderung üblich. Und so ist diese Ausstellung auch ein Zeugnis der Dankbarkeit dafür, dass der Fremdenverkehr seinerzeit ganze Alpentäler der Armut entriss.


Technisches: Die Ausstellung „Schweizer Reize. Die Schweiz in Reiseführern“ ist noch bis am 27. Juni 2010 zu den Öffnungszeiten der Nationalbibliothek zugänglich (beim Eingang rechts, einfach den Plakaten nach). Angenehm ist bei den Ausstellungen der NB immer ihre limitierte Grösse: Man kann sich durchaus verweilen, kriegt aber – wenn man will – in einer halben Stunde einen guten Überblick.

Montag, 3. Mai 2010

Saltimbocca

Ein Blick in die Kategorie Literatur dieses Blogs legt schonungslos offen, dass ich in letzter Zeit kaum Belletristik, sondern hauptsächlich Sachliteratur lese. Zum Glück hat meine Freundin L. kürzlich ihre Wohnung umgeräumt und beschlossen, einige ihrer verstaubenden Bücher etwas in Zirkulation zu geben. Als wir uns letzthin zu einem Glas Wein trafen, tauchte sie deshalb mit einem Stapel Krimis auf, die seither in meinem Bücherregal der Lektüre harren. Und so habe ich auf einer längeren Bahnreise für einmal nicht bloss die aufgelaufenen Zeitungen, sondern tatsächlich einfach ein Buch gelesen: Saltimbocca von Bernhard Jaumann, einen – ich sag’ mal – kulinarisch-kunsthistorischen Krimi; und erst noch mit Tiramisù-artig zweistufigem Aufbau. Jaumann erzählt die Geschichte eines mittelmässigen Krimiautors, der vor Ort in Rom für sein jüngstes Werk recherchiert, und gleichzeitig lesen wir dieses in Entstehung begriffene jüngste Werk um den gescheiterten Privatermittler Brunetti (der heisst tatsächlich so, und der Seitenhieb auf Donna Leon lässt auch nicht auf sich warten). Dass der fiktive Krimiautor und Ich-Erzähler ziemlich ostentativ die Züge des realen Krimiautors Bernhard Jaumann trägt, macht das Buch zunächst etwas gewollt originell – Ironie mit dem Vorschlaghammer, gewissermassen. Aber die parallelen Handlungen, der Brunetti-Krimi und die Rahmengeschichte, ziehen einen bald in ihren Bann. Zunächst erscheinen sie nur harmlos, dann immer virtuoser (und gelegentlich auf abenteuerliche und surreale Weise) miteinander verwoben; die gegenseitigen Bezüge werden raffinierter und komplexer, und ihre Parallelität stellt sich zusehends als unheimlich heraus: Jaumanns Alter Ego wird von seiner raffinierten Geschichte eingeholt, ehe er sichs versieht, und judiziert gleich Kleists Dorfrichter Adam „den Hals ins Eisen sich“.

Da die Brunetti-Geschichte als Entwurf eines durchschnittlich erfolgreichen Autors ausgegeben wird, kann sich Jaumann darin einiges an Fantasie erlauben: Man spürt förmlich, wie er es geniesst, einen abstrusen Plot an den Haaren herbeizuziehen und ihn grosszügig mit geografischen, kulinarischen und kunsthistorischen Bezügen aufzuladen. Augenzwinkernd lässt er ihn in der parallelen Klimax der beiden Geschichten vom Polizisten der Rahmenhandlung auflösen und diesen dabei (als kleine Solidarität des Autors mit seinem arg gebeutelten Doppelgänger) peinlich scheitern. Bei aller Absonderlichkeit funktioniert die Geschichte jedoch aufs Trefflichste; dass sie zudem intensivst die Nostalgie nach Rom und seiner Küche nährt, ist ein hübscher Nebeneffekt. So war das Buch noch in den Ferien fertig gelesen, und ich musste mir auf der Heimreise notfallmässig die Zeit mit Sudokus vertreiben...


Technisches: Bernhard Jaumann, Saltimbocca. Kriminalroman. Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag 42004. ISBN 3-7466-1509-7.

[UPDATE: Links zur Verlags-Website und zum Projekt Gutenberg angepasst.]