Freitag, 31. Dezember 2010

Auf ein Neues

Der Dezember schien sich im Voraus ganz luftig und grosszügig zu präsentieren, aber irgendwie ist er mir unversehens zwischen den Fingern zerronnen – das Jahr ist um, es bleibt nur, ein paar rückblickende Worte zu formulieren. Ich war ein paar Mal im Ballett und im Theater, habe einige Filme gesehen und siebzehn Bücher gelesen (nicht alle hier dokumentiert), dazu ein Mehrfaches davon in Form von Zeitungen, Zeitschriften und Blogs. Anderes war weitaus bedeutender, im Guten wie im Schlechten, aber das vermindert nicht die Wichtigkeit, kritischen Sinn und sprachlichen Ausdruck ständig zu schärfen. Es ist mir gelungen, meinen Vorsatz auszuleben, einiges an Grundlagenliteratur zum Altertum zu lesen, was mich sehr freut. Im nächsten Jahr möchte ich mehr nach dem Lustprinzip vorgehen. Auch dazu steht hier Etliches aus der Antike in den Regalen: Grabungsberichte, Museumskataloge, Monografien und Sammelwerke. Ich hege die Hoffnung, damit die oft trockenen Basen aus der diesjährigen Lektüre mit Farbe und Leben zu umkleiden, und bin mir auch gewiss, dass die Grundlagen mir die Spezialliteratur einfacher verständlich machen werden.

Und damit allen Mitlesenden ein gutes neues Jahr – möge es denkwürdig werden, reich an Schönem und Gutem, und möge das unvermeidliche Missliche schnell und dauerhaft der Vergessenheit anheimfallen! Und lasst uns nicht vergessen, dass Buch und Bühne nicht das Leben sind, aber dass wir ohne sie im Leben ärmer wären.

Freitag, 17. Dezember 2010

Nordisches Irrlicht

Von Peer Gynt kannte ich bis vor drei Wochen nur die Musik. Die beiden Suiten von Edvard Grieg haben durchaus aufbrausende und kontrastreiche Momente, hinterlassen aber mit ihren grandiosen Naturszenen, innigen Liedern und schwelgerischen Melodien einen sehr romantischen, verklärten Eindruck. Und nun dies: Peer Gynt von Henrik Ibsen, in der Übersetzung von Christian Morgenstern, inszeniert von Thorleifur Örn Arnarsson auf der Bühne des Luzerner Theaters. Dieser Peer Gynt ist ein Irrwisch und Tausendsassa, Herzensbrecher und Frechdachs, Mutters Liebling, Lügenbaron und Trollenprinz, unfassbar und unbegreiflich – es braucht ganze drei Schauspieler, um ihn einigermassen darzustellen, dazu den Bestand mehrerer Brockenhäuser, um ihm ein so überbordendes wie angemessenes Bühnenbild (Vytautas Narbutas) zu bieten. Der erste Teil gleicht einem Vulkanausbruch, einem Höllenritt durch Raum und Zeit: Meeresüberfahrt in der Badewanne, Trollenhochzeit auf Bücherstapeln, Griegs Musik aus dem Radio und vom Klavier in Fragmenten herwehend, Morgensterns kongeniale Verse scharf und ironisch, wenn auch oft unverständlich im allgemeinen Chaos, Lärm und Gebrüll. In der Pause präsentiert sich Peer Gynt im Foyer als Spitzenkandidat der Peer-Gynt-Partei PGP für den Posten des Königs, des Präsidenten, oder was auch immer Glamouröses zur Auswahl steht, hat aber mit seinem Aufruf zur Revolution beim belustigten Publikum wenig Erfolg. Nach der Pause dann so etwas wie der besinnliche Teil: Auf das expansiv-expressive Rausgehen in die Welt folgt Peers Rückkehr zu sich selbst, oder wenigstens sein Versuch, ein paar wichtigen Themen nicht länger auszuweichen. Der gealterte Heisssporn sieht sich zum Schluss mit einem Gegenspieler konfrontiert, der ihm unerbittlich die Stirn bietet – und findet (ganz altmodisch) unerwartete Erlösung.

Wir erlebten in Luzern einen temporeichen, vergnüglichen Abend. Die schiere Reizüberladung, verbunden mit meiner mangelnden Vorbildung, hat es mir allerdings verunmöglicht, die ganze Tiefe des Stücks zu erfassen; der Genuss blieb deshalb etwas an der Oberfläche. Immerhin: Dass Griegs Musik und Ibsens Peer Gynt herzlich wenig miteinander gemeinsam haben, ist nicht nur mir aufgefallen. Die Wikipedia fasst die communis opinio so zusammen: „Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die nationalromantische Musik Griegs denkbar schlecht zu Ibsens modernem Drama passt.“ Ich empfehle also, Drama und Musik getrennt zu lesen bzw. zu hören – aber ich empfehle beides ausdrücklich, und ebenso die eindrückliche Luzerner Inszenierung.


Technisches: Peer Gynt steht im Haus an der Reuss im Dezember und Januar noch drei Mal auf dem Spielplan. Morgensterns deutsche Übersetzung findet sich unter anderem beim Projekt Gutenberg, oder als Taschenbuch vom Ondefo-Verlag (ISBN 978 3 93970308 2).

[UPDATE: Das Luzerner Theater hat seine Website umgebaut; den Link zum Stück habe ich angepasst, ebenso den zum Projekt Gutenberg. Auf den Versuch, den laufend verschwindenden Youtube-Links hinterherzuhecheln, verzichte ich allerdings...]

Freitag, 10. Dezember 2010

Herren unserer Zeit

Momo: Dieser Name erweckt Nostalgie; weit zurückliegende Erinnerungen an den Kinderbuchklassiker von Michael Ende und vor allem an den ersten Kinobesuch meines Lebens, als ich ganz allein mit den Primarschulgspänli den Zug nach Luzern nehmen und mir den Film anschauen durfte. Nun kommt Momo als Orchesterballett auf die Bühne des Berner Stadttheaters, choreografiert von der Niederländerin Didy Veldman; statt Shakespeare oder Ibsen, statt Historie oder Weltliteratur also zur Abwechslung ein Märchen. Das macht das Ballett zugänglicher, erzählerischer und leichter verständlich als andere Handlungsballette der letzten Jahre.

Damit ist nicht gesagt, dass die Geschichte banal wäre. An Hand von Momo und ihren Freunden untersucht sie nämlich die Frage, wer denn Herr unserer Zeit ist: wir selber, oder sonst irgendwer oder irgendwas. Das Thema Zeit scheint äusserlich mehrfach im Motiv der Uhr auf. Durchdekliniert wird es aber insbesondere in der tänzerischen Umsetzung des Umgangs mit der Zeit. Die Grosszügigkeit, Verspieltheit, das eigentliche Vergessen der Zeit zugunsten dessen, wozu sie dient, charakterisiert Momo und ihre Freundinnen; scharf kontrastiert damit die hektische Effizienz der Zeitdiebe, der Grauen Herren; flotte Tempowechsel von der Zeitlupe bis zum maschinenähnlichen Schnelldurchlauf sind der choreografische Ausdruck dieses Gegensatzes. Ein zweites Thema schleicht sich dann ein: die Korrumpierbarkeit. Denn nur indem sie ihnen etwas Heissersehntes versprechen, sie mithin also bei einem schwachen Punkt erwischen, können die Grauen Herren die Menschen für sich gewinnen. Alle – bis auf Momo. Die nämlich ist schlicht immun gegenüber Tand und Schein. In einer wunderbaren Szene mit viel Slapstick wird ihr eine Puppe untergeschoben, Modell Letzter Schrei – und währenddem diese tanzend und quiekend über die Bühne stakst, steht Momo das schiere Unverständnis, was das soll und weshalb das cool ist, ins Gesicht und den Körper geschrieben.

Vielleicht ist dies die entscheidende Szene. Der ultimative Showdown in der Zentrale der Grauen Herren jedenfalls wird ganz knapp und beiläufig abgehandelt; fast absichtslos nähert sich Momo mit Schildkröte und Stundenblume, währenddem die letzten der Zeitdiebe sich in relativ kurzem Prozess gegenseitig die lebensspendenden Zigarren aus den Mündern reissen. Am Schluss – man erinnert sich, es ist ein Märchen – regnet es Blütenblätter in Fülle, Momos Freunde winden sich verwundert aus dem kalten Diktat der Zeit und gewinnen Ausdruck, Bewegung und Lebensfreude wieder.

Die Tänzerinnen und Tänzer des Bern.Ballett, allen voran Hui Chen Tsai in einer grossen Rolle als Momo, setzen die Geschichte mühelos um. Die Musik, die das Berner Sinfonieorchester unter Dorian Keilhack dazu spielt, kommt von Dmitri Schostakowitsch, zusammengestellt von Philip Feeney. Schade, dass nirgends zu erfahren ist, um welche Stücke es sich handelte, denn die Musik passt so gut, als hätte Schostakowitsch sie während der Lektüre von Endes Buch geschrieben. Sehr tanzbar, erfasst sie in jeder Szene perfekt die Gefühlslage – atonal zu Beginn, wie um den Schritt ins Land der Märchen zu markieren, spätromantisch-schwelgerisch dann über weite restliche Strecken, immer geschickt spielend mit Beschleunigung und Verlangsamung. Kaum mitgekriegt haben wir leider von unseren Stammplätzen im 3. Rang die Videos von Hambi Haralambous.

Ein Blick in den Zuschauerraum bestätigte: Dies ist ein Ballett, das auch Kinder anspricht und ihnen zugänglich ist. Vielleicht ein geschickter Schachzug des Bern.Ballets im Angesicht der Stadttheaterkrise und der überwundenen und doch immer noch drohenden Sparmassnahmen?


Technisches: Momo steht im Stadttheater Bern im Dezember und Januar noch mehrfach auf dem Spielplan. Einen schönen Vorgeschmack gibt die Videodokumentation von Hambi Haralambous. Und wer den Klassiker wieder einmal lesen möchte, findet ihn (hoffentlich) in jeder anständigen Bibliothek sowie beim Piper-Verlag.