Samstag, 31. Dezember 2011

Dem enteilenden Jahr zum Andenken

Je mehr Jahre man erlebt, desto weniger fällt jedes einzelne ins Gewicht und desto flüchtiger erscheint es einem. 2011 war da keine Ausnahme, im Gegenteil: Die Beschleunigung bleibt konstant. Und während mir seine letzten Stunden durch die Hände fliessen, ohne dass ich mehr als einen gelegentlichen Zipfel davon zu erhaschen vermag, schaue ich zurück auf das Blogjahr 2011. Ein Blick nach rechts zeigt: Es brachte die magerste Ernte seit dem Beginn dieses Unterfangens vor bald fünf Jahren. Das hat zum einen oberflächliche Gründe, etwa den, dass ich endlich in aller Stille darauf verzichtet habe, das Abonnement der zunehmend langweilig gewordenen Weltwoche zu erneuern, weshalb die gelegentliche Schnellfeuer-Medienkritik hier im Blog weggefallen ist. Aber es gilt auch festzuhalten, dass ich 2011 weniger ins Theater gegangen bin als auch schon, und dass ich so wenige Bücher gelesen habe wie seit einigen Jahren nicht mehr. (Freilich ist der Unterschied fast noch im Zufallsbereich, und nächstes Jahr wirds wegen schwindender Zeitungslektüre eher wieder besser.) Vor allem aber hatte mich über unüblich lange Phasen die Blogunlust im Griff.

Ich berichte all dies mit der grösstmöglichen Gelassenheit. Auch im neuen Jahr werde ich den rechten Mittelweg zwischen Ehrgeiz und Vergnügen anzusteuern versuchen. Einen kleinen Vorsatz habe ich dennoch, was meinen Lesestoff angeht – oder sogar zwei. Meinem diesjährigen Ziel, in Sachen Archäologie mehr Konkretes zu lesen, bin ich mit zwei-drei Büchern leidlich gerecht geworden. Dabei lässt sich jedoch nicht abstreiten, dass ich mich eher im Bereich des populärwissenschaftlichen Bilderbuches bewegt habe. Es würde mir ohne Zweifel gut tun, wieder einmal etwas härtere Kost zu beissen; dickere Bücher, und solche, die Arbeit und Anstrengung erfordern. Das wäre dann Vorsatz Nummer eins, und Nummer zwei passt bestens dazu: Es ist einige Jahre her, dass ich zum letzten Mal mehr als ein paar Sätze Altgriechisch im Original gelesen habe. Bevor ich vollends alles vergesse, wäre es ein schönes Ziel, diese Kernkompetenz wieder etwas zu schärfen. Ich müsste dazu so einfach wie möglich einsteigen – das Neue Testament wäre ein Ansatz, oder vielleicht auch Lysias oder Lukian – und mich dann langsam nach oben tasten. Gewiss: Das ist bisher mehr eine löchrige Skizze als ein Vorsatz, und ich verspreche nichts, weder mir selber noch sonst jemandem. Aber die Idee ist doch schön, deshalb will ich sie hier festhalten.

Und damit uns allen ein besinnliches Jahresende und ein gutes Neues Jahr!

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Poulet aux prunes

Von Marjane Satrapi kannte ich bisher nur Persepolis, ein Meisterwerk unter beiden Gestalten, Comic wie Film. Andere ihrer Graphic Novels standen seit langem auf meiner imaginären Liste von Büchern, die ich irgendwann gerne mal lesen würde; zum Beispiel Poulet aux prunes, die traurige Geschichte von dem iranischen Musiker, der seine Geige verloren hat und aus Kummer darüber sterben will. Jetzt ist mir die filmische Umsetzung zuvorgekommen: Wiederum hat Marjane Satrapi selber, zusammen mit Vincent Paronnaud, ihr Werk für die Leinwand adaptiert; dieses Mal allerdings nicht als Zeichentrick-, sondern als Realfilm mit illustrem Staraufgebot.

Und dann dies: Mathieu Amalric als Nasser-Ali, der Meistergeiger, spielt über weite Strecken reichlich hölzern; auch andere Figuren wirken klischiert, selbst die grosse Isabella Rossellini als Nasser-Alis Mutter bleibt seltsam blass. Viele Szenen haben nicht den richtigen Rhythmus, sind langfädig, oder noch schlimmer: schweben gewissermassen im Nichts, tragen zum Fortgang der Geschichte kaum etwas bei. Charakteristisch dafür sind die beiden Auftritte von Jamel Debbouze: Als skurriler Trödler, der eine Stradivari im Angebot hat, sowie als strubbelbärtiger Einsiedler, der aus dem Nichts am Grab von Nasser-Alis Mutter auftaucht, spielt er zweimal in erster Linie sich selbst – aber für die Entwicklung des Films sind beide Episoden kaum von Bedeutung. Es fühlt sich an wie aufdringliches Name-dropping: Schaut her, Jamel ist mein Freund, er spielt in meinem Film, sogar gleich zwei Mal, habt ihr ihn erkannt? Dazu kommen handwerkliche Mängel: Zum Beispiel erwarte ich gewiss nicht, dass der Darsteller des besten Violonisten seiner Zeit selber ein Virtuose ist; aber dass seine Bewegungen, wenn er spielt, mindestens einigermassen mit der gleichzeitig erklingenden Musik übereinstimmen, das ist doch nicht zuviel verlangt? Immerhin: Gegen Ende wird der Film besser. Da werden einige offene Fäden geschickt verknüpft, und wir entdecken das wahre, traurige Geheimnis in Nasser-Alis Leben, den eigentlichen Grund für seinen Wunsch zu sterben. Das ist stimmig und sehr berührend, wenn auch vieles von dieser Berührung durch reichlich Druck auf die Tränendrüse erzeugt wird und wir vom Kitsch nicht mehr fern sind.

Ich habe den Eindruck, dass Marjane Satrapi richtiggehend in Comics denkt und lebt. Dies würde Stärken und Schwächen dieses Films erklären wie beispielsweise den relativ penetranten allwissenden Erzähler (dessen Identität gegen Ende elegant aufgedeckt wird). Konsequenterweise überrascht es denn auch nicht, dass ihr eigentliches Talent überall dort aufblitzt, wo der Film zum Trickfilm wird – wo gezeichnete Szenen sich zwischen die realen schieben, wo schräge Vor- und Rückblenden die tollkühnsten Assoziationen auslösen. Als Nasser-Ali, inspiriert von Sokrates, ein paar gewichtige letzte Worte an seine Kinder richten will und das feierlich aufgebaute Pathos mit pythoneskem Witz ruiniert wird, haben wir Tränen gelacht. Und der Vorspann mit seinen schlichten Schattenfiguren war überhaupt reine Poesie. Dieses Timing, diese Kreativität fehlen grossen Teilen des Films. Und man würde sich wünschen, dass Satrapis nächstes Werk wieder etwas näher am Trickfilm wäre.


Technisches: Poulet aux prunes startet am 29.12. in den Deutschschweizer Kinos.

Samstag, 10. Dezember 2011

KKQQ

KKQQ von der 2bcompany im kleinen Saal von Nuithonie, das sind: links drei Übersetzerkabinen aus hellem Holz mit Fenstern vorne und seitlich, rechts oben hängend drei Leinwände, vorne auf der Bühne ein Tisch und ein paar andere Requisiten. In den Kabinen sitzen zwei Frauen und ein Mann mit Headsets auf dem Kopf; sie blicken in ihr MacBook oder lesen, gelegentlich hört man sie gedämpft reden oder singen. OK. Dann gehen die Projektoren an; auf den Leinwänden erscheinen die gleichen drei in ihren Kabinen und formen mit Zetteln mehr oder weniger synchron eine Begrüssungsbotschaft, während gleichzeitig in den Kabinen die individuelle Beschäftigung weitergeht. Plötzlich stürmt eine der Frauen, den Computer in den Händen, aus ihrer Kabine auf die Bühne, grüsst, nimmt Anlauf, hechtet über den Tisch, schmeisst einen Plastikchristbaum in Richtung Kabine, hechtet wieder zurück, klatscht die Wände ab, schmeisst wieder, schreit und keucht dabei als wäre sie auf einem Schlachtfeld. Nun gut. Dann kehrt sie zurück in die Kabine, und auf den Leinwänden entspinnt sich mit quiekenden Stimmen ein absurder Dialog über Kaffee beziehungsweise dass und wie man sich diesen doch sonst wohin stecken sollte.

So geht das noch ein Weilchen weiter, auch die zweite Frau kriegt etwas Auslauf, schmeisst ihrerseits Bücher, es wird ein bisschen falsch gesungen. Experimentelles Theater halt. Doch dann, die angekündigten 45 Minuten sind schon recht fortgeschritten, fällt endlich der Groschen: Was ich hier sehe, ist eine ausgeklügelte, durchchoreografierte Collage aus real und Konserve, aus live und zeitversetzt. Die Szenen auf den Leinwänden sind die gleichen, die wir eben in den Kabinen gesehen haben, nach Bedarf beschleunigt und zusammengeschnitten, und die real ablaufenden Vorgänge treten aufs Raffinierteste in Dialog mit den Filmen. Jetzt macht aufs Mal auch das Geschmeisse endlich Sinn: In einer herrlichen, mit „remplissage de tête“ betitelten Sequenz erscheint des Mannes Kopf gross auf der mittleren Leinwand und wird von links und rechts mit Christbäumen, Büchern und hechtenden Frauen abgefüllt. Für den Rest des Stücks läuft mein Kopf auf Hochtouren, um mit massiv parallelem Hinsehen die Querbezüge zu bemerken und aufzulösen.

So pubertär wie sein Titel, so schräg bleibt KKQQ bis zum Schluss; die Absurdität der Texte und Lieder, soweit ich sie verstehe, ist kaum zu toppen. Doch eine Aussage, ein Interpretationsansatz wird klar: Und wenn sich Kunst gar nicht in Gattungen aufteilen liesse wie die Ware beim Metzger? Wenn ein Theater auch ein Film, ein Film auch ein Gemälde sein könnte, und zwar gleichzeitig, je nach dem, wie man darauf blickt? Wenn sich ein Bühnenkunstwerk nicht nur in den bekannten drei Raum- und der einen Zeitdimension abspielen würde, sondern darüber hinaus Zugang hätte zu einer fünften Dimension, in der es mit sich selber interagieren könnte? Viel mehr als eine Performance ist KKQQ ein Labor, eine Petrischale gigantischen Ausmasses, in welcher allerlei Sporen ins Kraut schiessen, miteinander verschmelzen, Hybriden und Chimären bilden und die herkömmliche Lehre sanft in Frage stellen.


Technisches: Nach dem Studium der Website scheint mir, dass die Stücke der 2Bcompany wohl als work in progress zu kategorisieren sind – an einigen sind sie schon mehrere Jahre dran. So ist zu erwarten, dass sich die eine oder andere Gelegenheit noch bieten wird; als nächstes im März und April in Vidy.

Sonntag, 4. Dezember 2011

Annuntio vobis gaudium magnum

Welch ein Fest für Bühnen- und Kostümbildner: Die Sixtinische Kapelle galt es nachzubauen, die Fassade des Petersdoms, dazu majestätische Innenhöfe und reiche Säle; dann waren hundertzwanzig Kardinäle zu bekleiden (komplett mit Soutane und Talar inklusive Rochett), weiteres kirchliches Personal in Samt, Seide und Brokat sowie natürlich die Schweizergarde. Nanni Morettis Film Habemus Papam spielt im Vatikan und schwelgt deshalb unweigerlich im katholischen Prunk. Die Geschichte beginnt mit dem Begräbnis des Papstes und dem feierlichen Einzug der Kardinäle ins Konklave. Da sich in den ersten Wahlgängen drei Spitzenkandidaten gegenseitig neutralisieren, einigt man sich auf einen Kompromisskandidaten, den scheuen, gütig lächelnden französischen Kardinal Melville (Michel Piccoli). Doch als dieser auf der Loggia des Petersdoms den Gläubigen präsentiert werden soll, lähmt ihn ein jäher Panikanfall. Der Balkon bleibt leer.

Im ganzen minutiösen Protokoll ist eine solche Situation nicht vorgesehen. Entsprechend verstört improvisieren die Verantwortlichen. Immerhin organisieren sie psychologischen Support und fliegen zunächst den Psychiater Brezzi (Nanni Moretti selber) ein, den besten seiner Zunft, wenden sich dann auch noch an dessen Kollegin und Exfrau (Margherita Buy). Doch damit kommen sie vom Regen in die Traufe: Auf dem heimlichen Ausflug in deren Praxis büxt der Papst aus und taucht in Rom unter.

Von da an verfolgt der Film zwei parallele Stränge: einen grotesken (die Langeweile im end- und aussichtslosen Konklave) und einen feinsinnigen (die Reise des Papstes zu sich selbst). Ersterer ist reichlich schwerfällig. Moretti spielt seinen Psychiater so gestelzt-klischiert, dass es ein Graus ist; auch die Gespräche zwischen dem atheistischen Wissenschaftler und der katholischen Hierarchie sind kalter Kaffee. Und dass die Kardinäle zu Todo cambia von Mercedes Sosa zu tanzen beginnen, sollte wohl poetisch sein, ist aber eher peinlich. Grossartig hingegen ist der fünfundachtzigjährige Michel Piccoli als sinnsuchender Papst. Seine Irrfahrt durch Rom sorgt im zweiten Erzählstrang für Faszination und Leichtigkeit. Und als er schliesslich wieder auftaucht, ist er bereit, auf den Balkon zu treten, und weiss, was er dort sagen will.

Wer giftige Kirchenkritik erwartet hat, sieht sich auf den ersten Blick enttäuscht. Der Zweihänder ist Morettis Sache nicht. Das Florett jedoch schon: In kleinen Anspielungen sind da und dort feine, treffsichere Spitzen versteckt. Omnipräsent ist Johannes Paul II – Piccolis geheimer Ausflug erinnert an seine klandestinen Fluchten aus dem Vatikan, und der polnische Pressesprecher ist ein charmanter Seitenhieb gegen die seinerzeit installierte Polen-Connection. Auch dass der Papst eigentlich hätte Schauspieler werden wollen, ist unschwer als Referenz an den Schauspielschüler Wojtyla zu erkennen. Die journalistischen Vatikan-Watcher kriegen beim Beobachten und Interpretieren des Rauches aus dem Konklave souverän ihr Fett ab. Geradezu bösartig wird der Euro- und Italienzentrismus der katholischen Kirche aufgespiesst: Dass die Kardinäle aus Ozeanien beim Konklave-Volleyballturnier nur eine Rumpfmannschaft bilden, währenddem die Italiener gleich mehrere Equipen bestücken könnten, trifft den Nagel auf den Kopf und ist giftiger als viele Statistiken. Michel Piccoli schliesslich erinnert nicht nur physisch an den unprätentiösen Querdenker Johannes XXIII und an den lächelnden Papst Johannes Paul I. Dass jedoch ein so unscheinbarer, scheuer und gütiger Mann heute noch auf der unerbittlichen kirchlichen Karriereleiter bis ins Heilige Kollegium aufsteigen und – wenn auch als Kompromisskandidat – zum Papst gewählt werden könnte, halte ich für eine zwar nostalgische, aber reichlich abwegige Idee.


Technisches: Habemus Papam von Nanni Moretti kommt sinnigerweise an Mariä Empfängnis in die Deutschschweizer Kinos. Eine schöne Besprechung hat Antje Schrupp in ihrem Blog veröffentlicht.

Sonntag, 27. November 2011

Stochern im Nebel

Mein Italienisch reicht zum Überleben in Italien, für Smalltalk und gelegentliche Blog- und Zeitungs-Lektüre, aber für Literatur ist es an der Grenze. Ob es wirklich eine gute Idee war, als Ferienlesestoff La casa del comandante von Valerio Varesi mitzunehmen? Zwar erzeugt ein Krimi in der Regel den notwendigen Sog, damit ich dranbleibe – aber was, wenn ich gerade die entscheidenden Anspielungen und Details nicht verstehen würde? Die Angst erwies sich als unbegründet. Gewiss war die Lektüre ein dauerndes Tappen im Nebel, wo die Sichtweite wenige Meter beträgt und sich Häuser, Bäume und Personen nur schemenhaft abzeichnen; aber auf eine spezielle Weise war diese Art meines Verstehens ihrem Objekt angemessen. Varesis Commissario Soneri ist nämlich in Parma stationiert und ermittelt hauptsächlich in der Bassa padana, dem Landstrich entlang des Po und seiner Auen, der fast immer in zähen Nebel eingehüllt ist, wo skurrile Einzelgänger im Rhythmus des Flusses leben und dabei den Menschen aus dem Weg gehen, und wo Ressentiments aus den Partisanenkämpfen des Zweiten Weltkriegs noch nach Jahrzehnten schwelen, jederzeit bereit aufzulodern.

So irrten wir beide: ich im Italienischen und Soneri durch den Nebel der Bassa, im lange aussichtslosen Versuch, aus einer ganzen Serie von Verbrechen und Auffälligkeiten irgendwie schlau zu werden: ein osteuropäischer Fischer, im Pappelwald erschossen aufgefunden; ein Partisanenkommandant, in seinem Haus am Fluss einsam gestorben; eine Bancomat-Bande, welche die Dörfer heimsucht; irritierende Raser auf der Strasse und auf dem Fluss; das ganze gewürzt mit halbgaren politischen Theorien der frustrierten Jugend. Der Commissario ist wirklich nicht zu beneiden, denn jeder, den er trifft, weiss eindeutig mehr, als er sagt; dazu kommt das ständige Kompetenzgerangel mit den Carabinieri und zum Abrunden ein Chef, der nur seine eigenen simplen Theorien gelten lassen will. Jedes kleine Fortschrittchen muss Land und Leuten mühevoll abgerungen werden und trägt dennoch kaum zum Verständnis bei. So geht das in konsequenter Aussichtslosigkeit bis fast ans Ende: Ich habe noch kaum je einen Krimi gelesen, der so viele Mosaiksteinchen zu setzen vermochte, ohne dass auch nur in Umrissen ein Gesamtbild absehbar wurde. Erst mit den allerletzten paar Steinchen wachsen die Linien zusammen; der Schluss führt mit jäher Beschleunigung zu einer memorablen Konfrontation, in der Soneri nicht nur den Fall (besser: die Fälle) löst, sondern auch soweit möglich mit sich selbst einigermassen ins Reine kommt.

Nicht zu beneiden ist in all dem Chaos auch Soneris Freundin Angela, die ich im Nebelfluss noch lediglich als frivole Staffage kennengelernt hatte. Hier bekommt sie breiteren Raum, nimmt kräftiger Fleisch und Blut an, wird für Soneri zur wichtigen Helferin in den Ermittlungen und zum lebensretten Anker im Frust der erfolglosen Suche. Ihre grosse Beziehungsdiskussion kurz nach Beginn des Buches ist etwas gar schematisch philosophierend, aber im Ganzen tun die Szenen von gemeinsamem Hoffen und Verzweifeln, von Einsamkeit und Zärtlichkeit dem Buch gut. Sie lockern die Mühsal der Recherchen auf und sind ein Gegenpol zur omnipräsenten Melancholie und Verzweiflung.


Technisches: Valerio Varesi, La casa del comandante. Edizioni Frassinelli 2008. ISBN 978 88 88320 16 8. Im Gegensatz zu anderen Romanen Varesis ist dieser noch nicht auf Deutsch erschienen.

Sonntag, 20. November 2011

Villa mit Meerblick, verzweifelt gesucht

Die römischen Villen von Stabiae – soweit stimmten unser Reiseführer und meine entfernte Erinnerung überein – liegen in der Stadt Castellammare di Stabia am Golf von Neapel. Dort schien sich dies freilich noch nicht wirklich herumgesprochen zu haben. Als wir nämlich in Castellammare aus der Circumvesuviana stiegen, der inzwischen etwas heruntergekommenen Banlieue-Metro von Neapel, und uns nach dem Bus zu den Villen erkundigten, trafen wir zwar auf lauter freundliche Menschen, aber erhielten keine einzige kompetente Antwort. Hier das Kurzprotokoll unseres leicht kafkaesken Parcours:

Junger Mann am Ticketschalter: „Oh, die römischen Villen, das ist aber weit, so sechs bis sieben Kilometer – da müsst ihr ein Taxi nehmen, oder einen Bus, auf dem Platz unterhalb des Bahnhofs.“ Älterer Herr in einem zufällig auf dem Platz unterhalb des Bahnhofs haltenden Bus: „Die römischen Villen, äh (überlegt) – ja, steigt ein! Ich sage euch, wann ihr umsteigen müsst.“ Anderer älterer Herr im Bus, etwas später: „Nein, noch nicht jetzt, an der nächsten Haltestelle!“ An der nächsten Haltestelle, der gleiche ältere Herr: „Falsch, vorher war die richtige, steigt bei der nächsten aus und nehmt irgendeinen anderen Bus zurück!“ Eine Frau bei der nächsten Haltestelle: „Römische Villen? Keine Ahnung. Vielleicht Bus Nummer 13? Aber ich weiss nicht, wo der fährt.“ Ein Touristenfallensteller, die Verzweiflung und ein Geschäft witternd: „Ich habe einen Minibus, für zehn Euro fahre ich euch hoch!“ Drei junge Frauen auf der Strasse: „Keine Ahnung, aber [auf den FS-Bahnhof deutend] nehmt doch hier einen Zug!“

Unsere Rettung war das Tourist Office vis-à-vis des Bahnhofs. Ein distinguierter Angestellter revanchierte sich mit begeisterter Dienstfertigkeit quasi im Alleingang für die Inkompetenz seiner Mitbürger: „Die römischen Villen? Gute Idee! Da geht ihr zu Fuss, in einer Viertelstunde seid ihr dort. Und der Eintritt ist frei!“ Er überhäufte uns mit Gadgets (Stadtplan, archäologischer Führer, Kartenset und Poster), entliess uns mit besten Wünschen – und behielt recht: In fünfzehn Minuten hatten wir das Hochplateau über Castellammare erklommen und standen vor der Villa Arianna.

Wer findet, ich gehe mit den hilfsbereiten Passanten zu streng ins Gericht, dem empfehle ich einen Augenschein vor Ort: Die Villen von Stabiae sind nichts weniger als spektakulär. Die Villa Arianna wirkt wie an den steilen Abhang geschoben, auf nicht enden wollender Breite zum Meer hin aufgefächert, das in der Antike nur einen beherzten Steinwurf entfernt an den Fuss des Plateaus stiess, wo sich heute die Mietskasernen der Stadt ausbreiten. Rechter Hand thront der Vesuv, am Horizont liegen die Inseln der Bucht, und die Räume sind mit Mosaiken und Wandmalereien von höchster Qualität geschmückt. Ähnliches gilt für die Villa San Marco, unser zweites Ziel etwas nordöstlich vom ersten: mehr in sich geschlossen, aber noch luxuriöser, mit verschwenderischen Höfen und Gärten sowie meisterhaften Fresken ausgestattet. Wer solche Schätze in seiner Stadt hat und nicht mal den Weg dorthin kennt, der ist – mit Verlaub – ein Banause. Und es ist ja nicht so, dass man auf den Besucher nicht vorbereitet wäre: Die nötige Infrastruktur ist vorhanden und das Personal auch (darunter eine sehr kompetente Aufseherin in der Villa Arianna, die uns in aller Ausführlichkeit durch die Räume führte und sämtliche Fragen beantworten konnte). Aber wir waren an diesem schönen Spätsommertag in beiden Villen praktisch alleine.

Gewiss, Pompeji stellt alles in den Schatten; und wer dort war, dann in Herculaneum, vielleicht noch in Oplontis, der hat seine Dosis Archäologie wohl gehabt. Dennoch hätte es Stabiae verdient, aus seinem Aschenputtel-Dasein herausgeholt zu werden. Dieses beginnt übrigens bei der sehr beiläufigen Erwähnung in Reiseführern aller Art und setzt sich fort im offiziellen Kombiticket zu den archäologischen Stätten des Vesuvs: Da sind die Villen von Stabiae nämlich grossspurig „inbegriffen“, obwohl der Eintritt frei ist… Ich beneide unseren zuvorkommenden Helfer im Verkehrsbüro nicht um seine Aufgabe, diesem Juwel einer archäologischen Stätte seinen gebührenden Rang zukommen zu lassen.


Technisches: Fairerweise muss ich hinzufügen, dass unser Führer uns richtig geraten hatte, in Castellammare Via Nocera auszusteigen und von dort einen Bus zu nehmen. Tatsächlich fährt Bus Nummer 1 über die Passeggiata Archeologica an beiden Villen vorbei – allerdings sahen wir ihn auf dem ganzen Weg kein einziges Mal. Wer nicht den Bus oder ein Taxi nehmen will, steigt ebenfalls in Via Nocera aus der Circumvesuviana und folgt diesem (Rund-)Weg. Zu Fuss ist das gut machbar, allerdings ist die erwähnte Passeggiata Archeologica nicht etwa ein romantischer Panoramaweg, sondern eine abfallgesäumte Umfahrungsstrasse ohne Trottoir. Die Villa Arianna und die Villa San Marco sind signalisiert. Man geht hier, wie erwähnt, auf wenig begangenen Wegen: Wer den Eindruck hat, auf einem Hühnerhof gelandet zu sein, lasse sich nicht beirren; der Eingang zur Villa San Marco ist da nur noch wenige Meter entfernt.

Einen Tag nach uns war offensichtlich User leics von virtualtourist.com unterwegs, dessen präzise Hinweise uns äusserst nützlich gewesen wären…

Freitag, 11. November 2011

Stadtbild und Wohngeschmack: Annäherungen an Pompeji

Was macht der Klassische Archäologe, wenn er nach zehn Jahren wieder nach Pompeji fährt? Ein paar Eckpunkte des Stadtplans sind noch präsent, die vier Stile der pompejanischen Malerei kann ich noch ähnlich gut (oder schlecht) auseinander halten wie damals, aber sonst riskierte ich, ziemlich wie ein Tourist auszusehen. Glücklicherweise birgt die gutsortierte Handbibliothek Abhilfe. Der Griff geht freilich nicht zum grossformatigen Bildband, auch nicht zu einem der einschlägigen Ausstellungskataloge, sondern zu einem vergleichbar kompakten Werk: Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack, von Paul Zanker. Das Buch, unlängst als Geschenk bei mir gelandet, ist eine neu bevorwortete und reich bebilderte Neupublikation zweier ausführlicher Artikel – einer zum Stadtbild im Lauf der Zeit, der andere zum Wohngeschmack in den letzten beiden Dekaden Pompejis. Und die etwas zufällige Lektüreauswahl erweist sich aus zwei Gründen als ideale Vorbereitung auf den Besuch: Obwohl Zanker keine allgemeine Einführung in diese berühmteste aller Ruinenstätten vorlegt, erwähnt er implizit und explizit eine Fülle von Basics, die sich mit meinen fragmentarischen Erinnerungen zu einem brauchbaren Gesamtbild zusammenfügen. Und weil die Argumentation immer sehr nahe an den Befunden bleibt, steckt er dem Reisenden eine Vielzahl von interessanten Details ins Handgepäck, die es vor Ort zu überprüfen gilt.

Zwei Erkenntnisse nehme ich mit aus der Lektüre. Zum einen ist da die zentrale Aussage, dass den aufstrebenden, in einer gewissen Austerität befangenen Römern die hellenistische Wohnkultur als Idealbild vor Augen stand, genauer: der Luxus an den Fürstenhöfen der Diadochenreiche. Da in den Städten, und ganz besonders in Rom selber, eine ziemlich rigide öffentliche Moral jegliche Zurschaustellung von Reichtum als unrömisch ächtete, konnten die ersten Experimente mit diesem Idealbild nicht dort stattfinden. Zum Ort der frühesten Adaptationen dieser hellenistischen Einflüsse wurden daher die villae, die Landsitze der vornehmen Römer, wie sie gerade in der Bucht von Neapel sehr häufig waren. Von dort wurden dann diese neuen Formen allmählich hinter die Mauern der Stadthäuser übernommen, zuerst wiederum in der Provinz, wie eben paradigmatisch in Pompeji. Von besonderer Bedeutung war dabei offensichtlich die Verbindung von Architektur und Natur. Was in den Villen eine Selbstverständlichkeit war, bedurfte in den Städten eines gewissen Talents zur Anpassung. Für die reichen Familien war es freilich ein Leichtes, in ihren riesigen Stadthäusern ausgedehnte, elegante Gärten einzurichten, die oft mit Brunnen und Kanälen durchsetzt waren und nicht selten die Wohnfläche an Grösse übertrafen. Besonders eindrücklich (und in Pompeji auf Schritt und Tritt überprüfbar) ist jedoch, wie selbst in mittleren und kleinen Häusern mit allen Mitteln versucht wurde, die Illusion vom Wohnen im Grünen zu inszenieren. Auch wer auf seiner Parzelle kaum Platz fand für die nötigsten Räume, vermochte in der Regel doch noch eine Ecke freizuhalten, in der hinter ein paar Säulen etwas Grün wachsen konnte. Brunnen und weitere Vegetation wurden dabei auch gerne mittels Wandmalereien angedeutet. Weil die Wohnhäuser nicht wie bei uns exklusiv privat waren, sondern eine halböffentliche Funktion als Ort für Klientenempfang und Geschäfte hatten, muss man sich die Eingangstüren tagsüber geöffnet vorstellen, womit diese Gärten durch raffiniert inszenierte Blickachsen für alle Passanten sichtbar waren. (Dies kommt, nebenbei bemerkt, auch dem heutigen Besucher zugute, der so durch die vergitterten Eingänge vieler geschlossener Häuser das für den damaligen Bewohner Wesentliche in gleicher Weise erblicken kann.)

Meine andere Erkenntnis ist methodischer Art; dass es nämlich wichtig und bereichernd ist, abstrakte historische Fakten darauf hin zu befragen, welche konkreten Auswirkungen sie auf das Leben der Menschen hatten. Ein grossartiges Beispiel ist dies: Nach dem Bundesgenossenkrieg und der Eroberung durch Sulla 89 v. Chr. wurde Pompeji zur römischen Kolonie. So weit, so gut. Dies bedeutet freilich, dass in der Stadt eine beachtliche Anzahl Veteranen angesiedelt wurden; Zanker geht von mindestens 2000 Mann (mit Anhang) aus. Allein die Zahl ist schwindelerregend für eine Stadt, die zu ihrer späteren Blütezeit gerade mal 15‘000 Einwohner gezählt haben muss. Noch spektakulärer muss man sich den Kontrast vorstellen zwischen der von Raffinement und griechischer Kultur geprägten, blühenden Provinzstadt und den Neuankömmlingen, denen man nach Jahren im Feldlager eine gewisse Rauheit nicht absprechen kann, und die zudem nicht etwa als Bittsteller, sondern als die neuen Herren aufgetreten sein werden. Die Umwälzungen im Stadtleben müssen sehr tief gereicht haben; und wenn man dann liest, dass dieses Gebäude aus einer bestimmten Epoche stammt, jenes aus einer anderen, so muss man sich dauernd bewusst sein, dass wir hier eigentlich von zwei völlig verschiedenen Städten sprechen, die sich im katastrophenbedingt relativ uniform anmutenden Stadtgebiet durchdringen und überlagern.

Der Bookshop in Pompeji hat mich enttäuscht: Der Raum ist klein und beengend, die Auswahl ordentlich, aber der Bedeutung des Ortes nicht angemessen, und es gab keinen Führer und keine andere Publikation zu Pompeji, die sich aufgedrängt hätte. So sah ich mich in meiner Herangehensweise unerwartet bestätigt, mich vor dem Besuch mit der wissenschaftlichen Literatur zu informieren, um mich dann vor Ort ohne Führer, aber mit durch die Lektüre geschärftem Blick durch die Gassen und Häuser treiben zu lassen.


Technisches: Paul Zanker, Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack. Kulturgeschichte der antiken Welt, Band 61. Mainz, Philipp von Zabern 1995. ISBN 3 8053 1685 2. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.

Montag, 17. Oktober 2011

This must be the place

Schwarzer Kajal ums Auge, blutrote Lippen, dunkle Mähne: Sean Penn ist Cheyenne, Punkrocker im Ruhestand und Protagonist von This must be the place, dem Genres und Gewohnheiten sprengenden neuesten Werk von Paolo Sorrentino. Der italienische Regisseur hat seinen Film für Penn geschrieben und ganz um ihn herum gebaut; und dieser zeigt wieder einmal, weshalb er regelmässig als einer der besten Schauspieler seiner Generation bezeichnet wird. Mit einem Altersheim-Gang und einer hohen, rauhen, brüchigen Stimme, der man das jahrelange gepresste Falsettieren wie auch die vielen Drogen anhört, setzt er Cheyenne präzise ins diffizile Grenzgebiet zwischen Rührung, Absurdität und Lächerlichkeit. Apropos Drogen: „Ich frage mich, weshalb ich zwar alle Drogen der Welt genommen, aber nie mit Rauchen begonnen habe“, wundert sich Cheyenne und kriegt zur Antwort: „Weil du ein Kind geblieben bist.“ Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis von This must be the place. Das ist nämlich über weite Strecken ein surrealistischer Film, der seine Kraft aus der Charakterzeichnung des alternden, unendlich gelangweilten Rockers und seinen Begegnungen mit den unmöglichsten Personen bezieht. Auf den ersten Blick kann das gar nicht klappen: Wie soll denn dieser bunte Hund mit dem Poschtiwägeli im Einkaufszentrum oder in einem Truckertreff irgendwo in der Prärie auf irgendetwas anderes als Unverständnis und Gelächter stossen? Doch dann lässt er einen kurzen Kommentar voller kindlicher Naivität fallen, und schon springt der Funke. So entstehen unzählige leicht absurde, aber sehr berührende Szenen – etwa in Cheyennes luxuriösem Dubliner Stadtschloss mit seiner Langzeit-Ehefrau Jane (traumhaft besetzt mit der kongenialen Frances McDormand), oder irgendwo tief im amerikanischen Süden, wo der halbwüchsige Sohn einer Soldatenwitwe (Kerry Condon) den berühmten Gast zu einem Duett bittet, das schlicht herzerweichend ist.

Dorthin kommt der eigentlich faule und apathische Edel-Frührentner wegen einer Rahmenhandlung, die etwas gar weit hergeholt scheint. Cheyenne ist nämlich der verlorene Sohn eines New Yorker Juden, den er wegen Flugangst dreissig Jahre nicht mehr gesehen hat. Erst an seinem Begräbnis erfährt er vom lebenslangen, erfolglosen Racheversuch seines Vaters an seinem Peiniger in Auschwitz und macht sich nolens volens daran, diesen zum Abschluss zu bringen. Das ist der reichlich dick aufgetragene Vorwand für eine Art Road Movie und für ein paar weitere zunächst schräge, dann aber immer prägnanter und auch beklemmend werdende Szenen. Als Zuschauer kommen wir dabei immer näher an Cheyenne heran, entdecken unter der schrillen Oberfläche alte Wunden und Enttäuschungen, grosse Herzlichkeit, aber auch Bestimmtheit und Brutalität.

Nach fast zwei Stunden weiss man immer noch nicht, wo und wie man This must be the place einordnen soll. Man hat aber einen ungewohnten Reichtum an originellen, berührenden Momenten gesehen, und so viele komplexe und hervorragend besetzte Figuren wie sonst nur in drei, vier Filmen zusammen.


Technisches: Im Moment sieht es nicht danach aus, als ob es der Film auch in der Deutschschweiz noch in die Kinos schaffen würde. Falls sich irgendein Studio-Kino ein Herz fasst, kann ich den Besuch empfehlen. Ein Trailer findet sich auf Youtube, eine stimmige Analyse bei Arte.

Samstag, 8. Oktober 2011

Vom Dummy zum Dandy

Zwar kann ich die Tage im Jahr, an denen ich Anzug und Krawatte trage, immer noch reichlich an meinen eigenen Fingern abzählen, aber seit einigen Jahren nähre ich dennoch ein relativ spezialisiertes Interesse an gediegener Kleidung – an Massanzügen, Farb- und Materialkombinationen, Accessoires, an Kleidungsregeln und ihrem gekonnten Brechen. Dahinter steckt freilich mehr als nur die Freude an der Eleganz, nämlich einerseits ein Faible für das gute (und gut bezahlte) alte Handwerk, das von den grossen Ketten mit ihren Sweatshops – zu enormen menschlichen Kosten notabene – fast ganz ausgelöscht worden ist, anderseits die Erkenntnis, dass hochwertige Materialien und ein langlebiger Stil die besten Voraussetzungen für Nachhaltigkeit sind. Futter für meinen Spleen liefert glücklicherweise die Blogosphäre in rauen Mengen. Mehrere Massschneider von Savile Row und anderswo ermöglichen bloggend einen Einblick in ihre Arbeit: Thomas Mahon von English Cut ist hier als Pionier zu erwähnen, aber auch beispielsweise der sehr unterhaltsame, einen Tick exzentrischere Timothy Everest. Ferner haben viele erfahrene und stilsichere Kleidungsfetischisten ein eindrückliches Corpus in Sachen Stilberatung, ‑diskussion und -kritik geschaffen. Ich nenne nur zwei von ihnen: Aus San Francisco liefert Will Boehlke unter A Suitable Wardrobe täglich eine Miszelle, präsentiert etwa sein Outfit für den Tag, stellt Preziosen aus seinem Online-Shop vor oder diskutiert historische Fotos – für mich alles zwei Etagen zu hoch, fast etwas zu manieriert, aber immer hochinteressant. Aus London seinerseits schreibt Simon Crompton auf Permanent Style. Bei ihm schätze ich neben den präzisen, gelegentlich leicht augenzwinkernden praktischen Tipps vor allem die Dokumentationen der Produktionsprozesse von Anzügen, Hemden, Schuhen und Accessoires. (Die Sendung mit der Maus lässt grüssen.)

Simon Crompton ist auch der Autor des Buches, um das es hier geht. Für die Reihe Le snob der Süddeutschen Zeitung hat er eine kleine Fibel verfasst, die in erster Linie dem interessierten Durchschnittsmann den Weg zum Massanzug ebnen will. Denn dass sich hier niemand etwas vormache: Sich als Mann korrekt zu kleiden, ist – wie man täglich auf der Strasse sehen kann – kein Kinderspiel. Es ist nicht damit getan, dass Hemd und Anzug sitzen (was sie im Fall von Massbekleidung in der Regel sollten). Darüber hinaus gilt es, Stoffe, Farben und Texturen richtig zu kombinieren, um für das jeweilige Klima korrekt ausgerüstet zu sein und gleichzeitig das erforderte Niveau an Formalität zu treffen. Ferner sind die Hauptelemente der Bekleidung mit Krawatte, Einstecktuch und Manschettenknöpfen gekonnt, aber dezent abzuschmecken. Der erfahrene Dandy setzt mit den Socken einen zusätzlichen Akzent, stets besorgt, den überaus schmalen Grat zwischen Virtuosität und Peinlichkeit nicht zu verfehlen. Als Krönung wird schliesslich dieses unter Einsatz sämtlicher Mittel perfekt komponierte Ensemble an einem Punkt gezielt so zerstört, dass der Eindruck entsteht, man hätte sich nur eben etwas übergeworfen – wofür der Italiener den schönen Begriff sprezzatura verwendet. Wahrlich, da fallen mir doch spontan ein Dutzend hervorragende Argumente ein für meine gewohnte Alltagsuniform, dunkelblaue Jeans und gut sitzendes schwarzes Hemd…

Ich selber hätte also Le snob: Tailoring eigentlich nicht zu kaufen gebraucht, da ich sowohl finanziell als auch beruflich weit ausserhalb der Zielgruppe stehe. Wer aber Repräsentationspflichten hat, eine Erbschaft durchbringen muss, oder einfach gutes und solides Handwerk schätzt, findet in diesem praktischen, kleinen Buch einen idealen Führer auf dem Weg zum gebildeten Dandy.


Technisches : Simon Crompton, Le Snob Tailoring. München, Süddeutsche Zeitung Edition 2011. ISBN 978 3 86615 844 3. Das Buch erschien zunächst auf Deutsch, ist aber inzwischen bei Hardie Grant Books auch in der Sprache erhältlich, in der es ursprünglich geschrieben wurde.

Sonntag, 2. Oktober 2011

La piel que habito

Wer den neuen Almodóvar sehen möchte, sollte einen robusten Magen haben. La piel que habito enthält nicht nur einige Szenen, bei denen man den Kopf wegdrehen möchte, sondern erzählt auch eine Geschichte, die von krankhafter Brutalität geprägt ist; die Geschichte einer Rache. Der plastische Chirurg Robert Ledgard verliert zunächst seine Frau, später auch seine Tochter, als Folge eines einzigen Unglücks, eines Autounfalls. Seine Frau überlebt zwar zunächst schwer verbrannt (auch dank der Künste ihres Mannes), kann aber ihr neues Leben nicht aushalten. Die Tochter wiederum, die die Mutter sterben sah, erholt sich nie mehr von diesem Schock. Robert wird ob dem doppelten Verlust zum Rächer: nicht im Spandex-Anzug über Dächer fliegend, nicht in Vollpanzerung mit Maschinengewehren hantierend, sondern äusserlich gefasst und elegant im Massanzug, mit den Methoden der Chirurgie – reichlich frankensteinischen Methoden freilich, deren Erforschung ihm von sämtlichen Ethikkommissionen selbstredend scharf untersagt worden ist. Antonio Banderas bringt präzise die Mischung zwischen Eleganz und Wahnsinn hin, die Robert charakterisiert: Regungslos das Gesicht, nur ganz selten seine Emotionen durchscheinen lassend, die ansonsten hinter einer Maske der Entschiedenheit verborgen bleiben. Das einzige, was an seinem Handeln nicht planvoll und zielgerichtet ist, ist die Wahl des Opfers seiner Rache. Mangels Alternativen gewissermassen richtet sie sich gegen den einzigen Mitschuldigen an seinem Unglück, dessen er habhaft werden kann.

Ein durchgestylter Dekor ist die Kulisse zu den Wahnsinnstaten, die ich hier nur andeuten kann, um nicht schon zu viel vom verwickelten Plot preiszugeben. Ein grosszügiger Landsitz dient Robert als Privatklinik; die Architektur lebt vom Kontrast zwischen alten Steinen und modernem Design; und besonders bedeutend ist die Rolle der Kunst: Überdimensionierte Gemälde schmücken die Gänge der Villa, währenddem die Gefängniszelle, die trotz ihrer Grösse und Helligkeit nicht angenehmer ist als ein simples Verliess, im Lauf des Films zu einem Monument expressionistischer Kunst umgewandelt wird. Schräge Vögel, wie man sie von Pedro Almodóvar gewohnt ist, gibt es in La piel que habito hingegen kaum. Alles Schrille und Abgründige ist hier mit grosser Konsequenz hinter die Oberfläche, ins Innere der Figuren verlagert.


Technisches: La piel que habito startet am 6. Oktober in den Deutschschweizer Kinos.

Montag, 26. September 2011

Was Ikarus sah

Wer der Meinung war, dass die Serie von Georg Gersters Luftbildern archäologischer Stätten Griechenlands im Verlag Philipp von Zabern nach den beiden Bänden über das Festland und die Inselwelt bereits zu Ende sei, hat den besonderen Status Kretas nicht bedacht. Die grösste Insel Griechenlands kann nicht en passant zusammen mit all den kleineren behandelt werden, sondern rechtfertigt wegen ihrer historischen Bedeutung und ihres archäologischen Reichtums einen separaten, dritten Band. Im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern, welche die Fülle ihres Materials zu einer anthologischen, teils relativ kursorischen Betrachtung zwang, kann dieser aus dem Vollen schöpfen. Umfang und Rang vieler archäologischer Stätten rechtfertigen eine ausführliche Besprechung, und die thematische Beschränkung auf einen limitierten, weitgehend sehr einheitlichen kulturellen Raum erlaubt es, ein abgerundetes Gesamtbild zu zeichnen. Da vier Fünftel des Bandes der minoischen Epoche gewidmet sind, ist es vor allem diese Periode, die mit einleuchtender Gliederung, ausführlichen Einleitungen und vielen Querverweisen als Einheit präsentiert wird; der Band ist mithin ein knappes, reich bebildertes Kompendium der Architektur und Geschichte dieser frühen Blütezeit Kretas.

Gersters Luftbilder umfassen weit reichende Überblicke und erstaunlich aufgelöste Details. Insbesondere die Art, wie sie Zusammenhänge zwischen Architektur und Landschaft vermitteln, ist von souveräner didaktischer Qualität. Die Verantwortung für den Text wiederum bleibt in diesem dritten Band in der Familie: Als Autorin zeichnet Margret Karola Nollé. Im Gegensatz zu Johannes Nollé und Hertha Schwarz in den ersten beiden Bänden hatte sie die Gnade, vollständig auf jene bemühten Scherze zu verzichten, die alles, nur nicht witzig sind. Der Text ist flüssig und informativ; der Leser erhält ein weit über die Architektur hinausgehendes, abgerundetes Bild insbesondere des minoischen Kretas. Inwieweit dieses dem aktuellen Forschungsstand entspricht, kann ich wegen reichlich angejahrter Kenntnis desselben leider nicht beurteilen; immerhin ist der Text in sich stimmig, sind die Querverweise konsistent. Meine beiden Hauptkritikpunkte an den Vorgängerbänden muss ich allerdings auch hier anbringen. Zum einen bleibt das Lektorat der Bildlegenden unsorgfältig. In mindestens vier Fällen (pp. 13, 15, 29 und 60) sind die Blickrichtungen der Fotos falsch angegeben. (Schade ist überdies, dass in diesem Band, anders als in den ersten beiden, darauf verzichtet wurde, konsequent bei jedem Bild den Norden zu bezeichnen. Die Orientierung der Bilder erschliesst sich deshalb nur dort, wo sie in der Legende ausdrücklich angegeben ist.) Das andere, gewichtigere Manko, auf das ich hinweisen muss, ist die vergebene Chance, Bild und Text besser miteinander zu verzahnen. Ich will nicht ungerecht sein: In vielen Fällen erläutert der Text die dazugehörigen Fotos relativ präzise. In etlichen anderen Fällen hingegen stehen Text und Bild kaum verbunden nebeneinander, wird keine Hilfe zur Bildlektüre gegeben, werden nach Schema F Abfolgen von Räumen beschrieben, die auf den Bildern nicht zu erkennen sind – als hätte die Autorin einen gewöhnlichen Reiseführer geschrieben, ohne die Fotos überhaupt gesehen zu haben. Wer daneben ein bisschen zusätzliche archäologische Literatur im Regal stehen hat, oder wer in Google Maps zu navigieren weiss, kann sich gewissermassen am eigenen Schopf aus der Orientierungslosigkeit ziehen. Und es ist ja jene Lektüre am anregendsten, die zum regelmässigen Aufspringen vom Pult und zum Griff nach Sekundärliteratur reizt. Trotzdem bleibt der Eindruck zurück, dass der Verlag mit gehobenem Mittelmass zufrieden war, wo Exzellenz möglich gewesen wäre.


Technisches: Margret Karola Nollé, Kreta in Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Mainz am Rhein, Philipp von Zabern 2009. ISBN 978 3 8053 3832 5.

Donnerstag, 22. September 2011

Wiederaufnahmen

Der nahende Herbst bedeutet Saisonstart auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Der Newsletter des Stadttheaters Bern weist mich darauf hin, dass zwei Stücke, die ich letzte Saison gesehen und über die ich geschrieben habe, in den nächsten Wochen nochmals über die Bühne gehen: der tapsig-mysteriöse Parzival von Lukas Bärfuss nach Wolfram von Eschenbach und die witzig-rasante Semele von Georg Friedrich Händel. Wer sich also von meinen immer etwas zu spät publizierten Rezensionen inspiriert fühlt, hat hier die Gelegenheit, etwaige Lücken zu füllen. Und wenn wir schon dabei sind: Im Juni 2012 wird auch das Ballett Momo wieder aufgenommen, und zwar gleich fünf Mal. Grossen und kleinen Märchenfreunden empfehle ich, die Daten jetzt schon zu notieren.

Samstag, 17. September 2011

La solitudine dei numeri primi

Primzahlen (auch Nicht-Mathematiker erinnern sich) sind Zahlen, die nur durch eins und sich selber teilbar sind, also mit keiner anderen Zahl einen gemeinsamen Nenner haben: Einzelgänger im Reich der Zahlen gewissermassen, selbst ihresgleichen nie richtig nah, sondern nur mit Distanz aufeinander folgend. Mit Primzahlen werden Alice und Mattia verglichen, die Hauptfiguren im Film La solitudine dei numeri primi nach dem gleichnamigen Erfolgsroman von Paolo Giordano. Alice und Mattia lernen sich im Gymnasium kennen, und sogleich ist eine merkwürdige, starke gegenseitige Faszination spür- und sichtbar. Da haben zwei einen Draht zueinander gefunden, die ansonsten beide Aussenseiter und Einzelgänger sind, zurückgezogen in ihrer imaginären Kugel, welche von aussen fast nur durch die Gemeinheiten der Kolleginnen durchbrochen wird – und beide leiden an einer tiefen Wunde, die auf ihre Kindheit zurückgeht: Alice wurde von ihrem jovial-ehrgeizigen Vater zum Skitalent herangezüchtet, bis sie übermüdet im Nebel beide Beine brach und seither staksig auf Prothesen geht. Der hochbegabte Mattia musste sich fast Tag und Nacht um seine autistische kleine Schwester kümmern. Aus schierer Verzweiflung deponierte er sie eines Tages, statt sie zum Kindergeburtstag mitzunehmen, kurz auf einer Parkbank; als er nach Stunden endlich zurückkehrte, war sie verschwunden und ist nie mehr aufgetaucht.

Dieser Schrecken enthüllt sich allmählich, als Regisseur Saverio Costanzo behutsam zwischen Kindheit, Pubertät und Erwachsenenalter von Alice und Mattia hin- und herwechselt. Abweisende Architektur, trostloses Mobiliar, Nebel und Regen sind die Kulissen für kurze, beklemmende Szenen in den zwei Leben. Erst nach ihren Uniabschlüssen, als wir die beiden bei einer Hochzeitsfeier wieder sehen, mischt sich eine zärtliche Hoffnung in die omnipräsente Beklemmung. Doch im Ganzen bleibt La solitudine dei numeri primi ein trauriger Film. Für die drei Alice und Mattia hat Costanzo hervorragende Schauspielerinnen und Schauspieler gefunden, allen voran die wunderbare Alba Rohrwacher, die der erwachsenen Alice gleichzeitig Eleganz und tiefe Traurigkeit verleiht.

In einer Art Coda sehen wir die Protagonisten am Schluss wieder – Alice nach gescheiterter Ehe völlig von der Rolle und bis zur Unkenntlichkeit abgemagert; Mattia, wiewohl erfolgreicher Wissenschaftler, mit dem wirren Bart und leeren Blick eines russischen Mönchs. Ist ihre inzwischen ferne Verbundenheit genügend stark, um die beiden noch einmal aus dem Elend ziehen? Mit dieser Frage endet der Film.


Technisches: Die Einsamkeit der Primzahlen läuft nur noch vereinzelt in Schweizer Kinos. Ich verweise deshalb auf die DVD sowie auf die deutsche Übersetzung des Romans.

Sonntag, 4. September 2011

Katzenfüttern am Grab

Ich bin vornehmlich ein Gelegenheitsleser. Das heisst nicht in erster Linie, dass ich dann lese, wenn ich Gelegenheit dazu habe – denn auf Gelegenheiten soll man nicht warten, man schafft sie sich –, sondern vielmehr, dass ich das lese, wozu ich Gelegenheit habe, konkret: irgendein Buch, das halt hier grad so im Regal steht. Viele dieser Bücher sind irgendwann einmal von jemandem aussortiert worden und direkt oder indirekt bei mir gelandet. So ist mein Leseprogramm hauptsächlich vom Zufall zusammengestellt, und nur bei der Priorisierung greife ich selber noch helfend ein.

Eines dieser Bücher, das ich selber vielleicht nie gekauft hätte, aber mit Genuss gelesen habe, ist Thomas Hürlimanns Novelle Das Gartenhaus. Eine Novelle, so erinnert sich der Maturus, ist eine (in der Regel relativ kurze) Geschichte, die um eine unerhörte Begebenheit kreist. Die unerhörte Begebenheit im Gartenhaus klingt, wenn ich sie hier notiere, vielleicht etwas banal: Ein pensionierter Oberst füttert heimlich eine Katze, die um den Grabstein seines vor der Zeit verstorbenen Sohnes kreist, durch den Winter. Wie er sich dabei aber anstellt – das ist freilich unerhört. Militärisches Räsonieren ist in des Obersten Kopf dermassen fest verdrahtet, dass er nahtlos in den Manövermodus schaltet und in militärischen Kategorien zu denken beginnt: Nachschub muss organisiert werden, Lagerung und Versorgung müssen vor den Augen des Feindes verborgen werden, Kreativität und persönliche Opfer sind gefragt; und dabei unterlaufen dem alternden Regimentskommandanten mehrfach peinliche Fehler. Einmal mehr bin ich beeindruckt, welch unerschöpfliche Quelle für ironisches Amusement der schweizerische Militärjargon ist! Aber natürlich erschöpft sich die Novelle nicht in Gefechtsprosa. Vielmehr gibt sie Einblick in eine Fabrikantendynastie, welche zwar wacker die Traditionen und den schönen Schein aufrecht erhält, damit aber nur noch behelfsmässig verdecken kann, dass körperliche und seelische Gebrechlichkeit unerbittlich fortschreiten und ihre Opfer fordern, genauso wie der Zahn der Zeit bedrohlich an der Villa nagt, in der eigentlich nur noch die Leere mächtig ist. Zufluchtsort wird am Schluss das titelgebende Gartenhaus – Zufluchtsort und gleichzeitig Ort eines letzten Wiederfindens zwischen dem Obersten und seiner Frau.

Korpsgeist in Militär und Dynastie kennt der Bundesratssohn Hürlimann natürlich aus eigener Lebenserfahrung. Das Sittengemälde einer gutbürgerlichen Familie, dieses Pfeilers von Staat und Armee, ist ihm jedenfalls lebensecht gelungen. Es ist kein Zufall, dass Thomas Hürlimann in den seltenen Fällen, wenn er sich aus seinem Berliner Exil zu Schweizer Gegenwartsfragen äussert, aktuelle Sachverhalte präziser erfasst und treffender benennt als viele andere. Das Gartenhaus zeigt einmal mehr: Hürlimann hat intimstens verstanden, wie die Schweiz der letzten paar Jahrzehnte funktioniert hat.


Technisches: Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. Novelle. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 1993 (ursprünglich Zürich, Ammann 1989). ISBN 3 596 11878 6 (bzw. neu 978 3 596 14688 8).

Freitag, 26. August 2011

Azur und Asmar

Wenn mir der Animationsfilm Azur und Asmar, den wir kürzlich auf DVD gesehen haben, in Erinnerung geblieben ist, dann liegt das nicht unbedingt an seiner Geschichte. Die ist einigermassen banal, ein Konglomerat aus Prinz und Bettelknabe, Zauberflöte und Tausendundeiner Nacht: Der hellhäutige Azur und der dunkelhäutige Asmar sind Milchbrüder, erzogen von Asmars Mutter im Schloss von Azurs Vater, bis die Amme und ihr Kind des Landes verwiesen werden. Erwachsen geworden, bricht Azur in die Fremde auf, um die Fee der Dschinns aus den Erzählungen seiner Kindheit zu suchen und zu befreien. Jenseits des Meeres entdeckt er, dass seine Amme inzwischen eine reiche und mächtige Frau ist, und macht sich dann zusammen mit seinem zunächst widerstrebenden Milchbruder auf die anstrengende und gefährliche Suche nach der Fee. Die Überwindung von Vorurteilen, der Lohn der guten Tat und die Brüderlichkeit über alle Grenzen hinweg sind die Themen dieses Films, die gelegentlich etwas arg eindimensional wirken.

Grossartig ist hingegen die künstlerische Umsetzung. Azur und Asmar ist keiner dieser Animationsfilme, die mit unbegrenztem Einsatz von Rechenpower aus der Zweidimensionalität in eine fotorealistische Welt entfliehen wollen. Die Bildsprache ist ausgesprochen grafisch, stark schematisiert und vor allem durch eine überbordende orientalistische Ornamentik geprägt. Die architekturalen Dekorationen, aber dann auch die Kleider, die Accessoires, ja sogar Blumen, Wälder und Löwenmähne sind Kunst gewordene Geometrie. (Vorsicht, die verlinkten Bilder sind riesig! Noch mehr Bilder gibts hier.) Da verbinden sich Farben und Formen zu betörenden, vexierbildähnlichen Tableaus. Das ist schlicht wunderschön und ein kontinuierliches, sehr sehenswertes Fest für die Augen.


Technisches: Azur und Asmar, 2006 erschienen, ist ein Werk von Michel Ocelot, dem Schöpfer von Kirikou. Der Film ist auf DVD verfügbar, ein Trailer findet sich auf Youtube. (Leider sind alle französischen Versionen, die ich gefunden habe, von mittelmässiger Qualität und vermitteln die Magie der Bilder nicht wirklich; deshalb verlinke ich den englischen Trailer.) Die offizielle Website des Films, http://www.azuretasmar-lefilm.com/, scheint nicht mehr in Betrieb zu sein, jedenfalls von hier aus. Zum gleichnamigen Videogame kann ich nichts sagen; optisch scheint es allerdings ebenso überwältigend zu sein wie der Film.

Freitag, 5. August 2011

Beim Zeus, das swingt!

Mit einem letzten Nachtrag schliessen wir den Kreis der Spielstätten und der Sparten: Nach Ballett und Theater geht es heute um die Oper, und zwar um Händels Semele. Das ist, um genau zu sein, An Opera in the manner of an Oratorio; und vielleicht stehen deshalb, als sich der Vorhang hebt, vier Notenpulte und vier Stühle in Reih und Glied auf der Bühne des Berner Stadttheaters. Aber konzertant gesittet wird der Abend ganz und gar nicht, im Gegenteil: Pulte und Stühle fliegen schon bald weg und kippen um, und die explosive Geschichte nimmt unkontrolliert ihren Lauf. Sie ist ja auch vertrackt genug: Semele ist die Tochter des thebanischen Königs Kadmos. Sie ist eine Geliebte des Zeus, soll aber Athamas heiraten, in den wiederum ihre Schwester Ino unsterblich verliebt ist, und muss, falls das mit Zeus ernsthafter wird, die Rache der Hera fürchten. Menschen und Götter – es ist kompliziert. Zunächst freilich erscheint alles sehr einfach: Der Göttervater sprengt mit Blitz, Donner und goldenem Regen in letzter Sekunde die Hochzeit und holt die Geliebte zu sich. Dann nimmt das Verderben seinen Lauf. Einerseits langweilt sich Semele im Olymp schon bald – der Geliebte ist ständig auf Achse, und auch Ino, welche Zeus ihr hastig als Gesellschafterin herbeiholt, kann sie nicht trösten. Anderseits spinnt Hera, zunächst furios erregt, dann immer gefasster, ihren heimtückischen Gegenangriff. Beides fliesst in einer genial-perfiden Idee der Göttermutter zusammen: Sie gibt Semele die Idee ein, von Zeus als Liebesbeweis zu verlangen, er möge sich ihr nicht in menschlicher Verkleidung, sondern in seiner wahren göttlichen Gestalt zu zeigen. Sonnenklar, dass die frustrierte Sterbliche darauf reinfällt, dass Zeus sie vergeblich warnt, und dass sie von der unaushaltbaren Erscheinung geblendet stirbt.

Newburgh Hamilton und William Congreve haben die von Ovid vorgezeichnete Handlung in ein ausgezeichnetes Libretto gegossen – so knapp, als hätten sie jedes Wort einzeln abgewogen; und trotzdem fehlt nichts, geht alles zwangslos ineinander über: keine Spur von Langfädigkeit, wie sie mir bei anderen Barockopern auch schon aufgefallen ist. Händel gibt (in the manner of an Oratorio, wir erinnern uns) dem Chor überraschend viel Platz, und auch das tut dem Stück gut. Es erlaubt dem Regisseur Jakob Peters-Messer, viel Handlung und Leben auf die Bühne zu bringen. Die Ansätze zur Komödie, die in der Vorlage enthalten sind, nimmt er dankbar auf, überzeichnet da und dort einiges (worunter, wie so oft, die eifersüchtige Göttergattin Hera am meisten leidet). Grossartig etwa ist die lange Szene, in der Semele, assistiert von der zunehmend verzweifelten Ino, aus hundert Paar schwarzen Pumps ihren Favoriten küren soll. Das Berner Symphonieorchester (in Barockbesetzung, optisch wunderbar mit Cembali und Theorbe) wurde von George Petrou geleitet und begleitete ein durchwegs überzeugendes Solistenensemble. Eine Erwähnung hätten alle verdient; geblieben ist mir der souveräne Jupiter des Andries Cloete, ein Klischee-Playboy mit Schmalzlocke und offenem Morgenmantel, der mit perlend leichter, grossartiger Stimme seinen Goldregen begleitete.

In die Oper gehe ich, wie der aufmerksame Leser weiss, ausnehmend selten – wohl eine Frage persönlicher Vorlieben und Prioritäten. Was dabei gelegentlich zu verpassen ist, hat mir Semele gezeigt: ein Gesamtkunstwerk, in dem Musik, Bewegung und Handlung nahtlos ineinander und in einen viel-sinnigen Genuss übergehen. Und in dem Witz und Anspielungen nicht zu kurz kommen. Die Geschichte ist mit Semeles tragischem Tod nämlich noch nicht zu Ende: Aus ihrer Asche überlebt ihr ungeborener Sohn mit Jupiter, Bacchus, der Gott der Ekstase. Und so flitzt der Kleine zuletzt über die Bühne, rennt zielstrebig auf die Magnum-Flasche zu und serviert als Schlussbouquet überreichlich Champagner…


Technisches: Semele wird im Herbst am Stadttheater Bern nochmals für vier Vorstellung wiederaufgenommen. Für einmal bin ich also mit meiner Rezension nicht nur zu spät…

Samstag, 23. Juli 2011

Capri einfach

Weiter geht’s hier mit den Nachklängen aus dem Theater, um es mit Robert Schumann zu sagen. Gemeint ist diesmal das Theater an der Effingerstrasse, wo ich Ende Mai Büchners Leonce und Lena gesehen und sehr genossen habe. Ich kann allerdings nicht genau sagen, ob der Genuss zuvorderst der Inszenierung geschuldet war – oder nicht vielmehr der grenzenlosen Verehrung, die ich Georg Büchner und seinem gesamten Werk entgegenbringe. Als er 1837 mit dreiundzwanzigeinhalb Jahren an Typhus starb, hatte Büchner nicht nur bereits vier Werke geschaffen, die zum Kanon der deutschsprachigen Literatur gehören. Er hatte darüber hinaus eine vielversprechende wissenschaftliche Karriere in der vergleichenden Anatomie gestartet, die ihn nach Studien in Giessen und Strassburg bis zur Stellung eines Privatdozenten an der Universität Zürich brachte. Und er hatte gleichzeitig in seinem heimatlichen Hessen mit wachem Verstand und scharfer Feder gegen den absolutistischen Landesfürsten aufbegehrt, was ihm Verfolgung und Verbannung einbrachte und ihn eben nach Zürich führte, wo die gerade neu gegründete Universität sich ganz bewusst und aktiv als Zufluchtsort für verfolgte Freigeister aus den deutschen Gross- und Kleinfürstentümer positionierte.

Büchners einziges Lustspiel Leonce und Lena ist ein ebenso politisches Stück wie seine revolutionäre Flug- und Denkschrift Der Hessische Landbote. Sein König Peter vom Reiche Popo wäre gerne ein Denker, ist aber nur ein Wirrkopf, umgeben von einem Hofstaat ängstlicher, stiefelleckender Lakaien, währenddem Landrat und Schulmeister die Bauern zum Jubeldienst drillen. Die Absurdität der Macht und ihre Verachtung für das Volk treten schonungslos zu Tage; die Karikatur ist von schneidender Schärfe. Der Sohn des Königs freilich, Prinz Leonce, ist eher ein Träumer und Romantiker, und als sein Vater ihn zur Hochzeit mit Prinzessin Lena vom Reiche Pipi zwingen will, reisst er aus: Nach Italien will er, ins gelobte Land der Sonne und Freiheit. Dass er dort ebendieser Prinzessin Lena über den Weg läuft, die ihrerseits vor der Zwangsheirat geflüchtet ist, und dass sich die beiden als Seelenverwandte erkennen und unerkannter Weise ineinander verlieben, gibt dem Stück eine Wendung zur romantischen Komödie, allerdings durch gehörige Ironie ebenso abgemildert wie durch den sprühenden Sprachwitz – das Werk eines wahren Meisters der Sprache, kontinenteweit entfernt von jenen oberflächlichen Brechstangen-Wortspielen, die die heutigen „Comedy“-Bühnen bevölkern.

Aber es wäre ungerecht, hier nur vom Stück und nicht von der Inszenierung an der Effingerstrasse zu sprechen. Auch diese hatte ihre Glanzlichter. Geblieben ist mir Uwe Schönbecks Interpretation des Lebenskünstlers Valerio, des Vertrauten des Prinzen. (Das ist die Figur, die sich auf die Frage nach ihrem Beruf mit dem unübertrefflichen Satz einführt: „Herr, ich habe die grosse Beschäftigung, müssig zu gehen.“) Schönbeck spielte – wieder einmal, möchte ich sagen – in erster Linie sich selbst, war aber die ideale Besetzung für seine Rolle. Grossartig in ihrer ernsthaften Absurdität waren Jesko Stubbe als König Peter vom Reiche Popo und seine Adlaten, Berater und Sicherheitskräfte Aaron Frederik Defant und Thomas Handzel. Weniger gefesselt hat mich passagenweise das glückliche Paar Leonce und Lena. Wie sie aber ausgerechnet die Szene, die im Buch vielleicht am wenigsten überzeugt, die Szene ihrer Begegnung, gestalteten, wie sie den einen Wortwechsel, an dem alles hängt, mit dermassen viel Leben füllten, dass einem das Herz warm wurde, war ganz grosse Schauspielkunst. So soll Leonce das letzte Wort dieses Artikels gehören, wie ihm das letzte Wort des Stückes gehört: mit einer so radikalen wie liebevollen politischen Utopie, die heute nicht weniger wünschenswert und dringlich ist, als sie es 1836 war:

Nun, Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen? Wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen, und uns mit dem Mikroskop danebensetzen? Oder hast du Verlangen nach einer Drehorgel, auf der die milchweißen ästhetischen Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? (Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf.) Aber ich weiß besser, was du willst: wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, dass es keinen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestillieren, und das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer stecken.

Technisches: An der Effingerstrasse wird längst die neue (vielversprechende) Saison geplant… Leonce und Lena ist selbstredend in den diversesten Ausgaben verfügbar, zum Beispiel – gleich mehrmals – in den gelben Büchlein, aber auch online bei zeno.org.

Sonntag, 17. Juli 2011

Flight of Gravity

Wenn hier im Blog die Rede auf Festivals zu kommen beginnt, ist das ein untrügliches Zeichen, dass die Theatersaison vorbei ist. Die Programme sind durch, die Dernièren gespielt; und während auf Plätzen und in Pärken Jazz und Film und mehr unter freiem Himmel zelebriert werden, schlummern die Bühnen ihren verdienten Sommerschlaf. Für den Schreibenden ist der Saisonschluss allerdings häufig eine Zeit, in der auch diverses Anderes abgeschlossen wird, was hier im Blog regelmässig zu Verspätungen führt. Deshalb ist einiges nachzutragen, und ich beginne mit dem Bericht zum letzten Ballettabend der Saison am Stadttheater Bern. Nachdem wir das zweite Programm schmählich verpasst hatten, schafften wir es in extremis dann gerade noch an die, eben, Dernière von Flight of Gravity. Soviel sei schon zusammengefasst: Es wäre jammerschade gewesen, diesen kurzen, intensiven Abend zu verpassen.

Ohne es geplant zu haben, kamen wir genau in dem Moment im Vidmar-Foyer an, als Ballettchefin Cathy Marston und Dramaturgin Wanda Puvogel ihre kurze Werkeinführung begannen. Anlass und Anstoss zu ihrer Kreation war der fünfzigste Todestag des Komponisten Bohuslav Martinů, 1959 im Liestaler Exil. Die Martinů-Festtage regten alle Musiktheater in der Schweiz an, zu diesem Gedenktag ein Werk von Martinů auf die Bühne zu bringen. Währenddem die meisten Häuser dieser Anregung mit Operninszenierungen nachkamen, machte sich in Bern Cathy Marston für einen Ballettabend zu Martinus Musik stark. Die Wahl fiel auf das Concerto da Camera, das ergänzt wurde um barocke (Tartini) und moderne Musik (Silvestrov und Penderecki). Ein grosszügiges Sponsorenengagement ermöglichte die Zusammenarbeit mit der Camerata Bern, die live auf der Bühne musiziert. Die Figuren für ihr Ballett borgte sich Cathy Marston bei Milan Kundera aus. Das Liebesdreieck aus Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – der Verführer Tomas, die zurückhaltende Teresa und die impulsive Sabina – liefert den Rohstoff für Charaktere und Beziehungen. Durch die Aufspaltung der drei Figuren auf jeweils drei Tänzerinnen und Tänzer schält die Choreografin ihre einzelnen Eigenschaften und Aspekte heraus.

Zum Abschluss der kurzen Einführung sagte Wanda Puvogel dann noch dies: Mit dem Wissen um diesen Hintergrund, nämlich die Musik, die Hauptpersonen und die dargestellten Gefühle, kann man das Ballett mit dem Kopf wahrnehmen. Man kann es aber genauso gut mit dem Bauch tun, kann Musik, Kostüme, Bewegungen einfach auf sich wirken lassen. Ob es an der Komplexität von Flight of Gravity lag oder an meiner Müdigkeit – genau das habe ich getan. Deshalb, und so Leid es mir tut, bin ich nun ausser Stande, hier eine tiefschürfende Analyse zu geben. Ich kann einzig einige der Glanzlichter rapportieren. Die Bühne wäre zu erwähnen, eine sobre, aber raffinierte Etagenkonstruktion, die zuoberst dem (stehenden) Orchester Platz bot und vorne, auf einem Mezzanin-Niveau, dem Pianisten, währenddem über Treppen und durch Öffnungen die Tänzerinnen und Tänzer zirkulierten. Die verschwenderische Choreografie wäre zu nennen – das Bern:Ballett trat mit Verstärkung von jungen Tänzerinnen und Praktikantinnen an, und ein normal multitasking-fähiger (oder eben unfähiger) Betrachter hätte mehrere Augenpaare gebraucht, um allem zu folgen. Schon zur Genüge bekannt, aber deswegen nicht weniger eindrücklich, sind Cathy Marstons kreative Sicherheit und die Perfektion, mit welcher das Bern:Ballett ihre Ideen umsetzt. Die Musik schliesslich erwies sich als stupend tanzbar, und die Vermählung von barocken und zeitgenössischen Stücken zeugt von einem universellen Wissen und einem Verständnis des Gegenstandes, die sich der Vorstellungskraft des Laien entziehen. Ein an Dichte, aber auch an Schönheit kaum zu übertreffender Tanzabend bildete dergestalt meinen Schlusspunkt der Saison. Und es bleibt mir nur zu sagen, dass ich mich schon riesig auf die nächste freue.


Technisches: Wie gesagt, es war die Dernière. Wer das Stück verpasst hat, kann nur schwach hoffen, dass irgendwann eine Wiederaufnahme angesagt wird… Einen guten Einblick in das optische und akustische Erlebnis bietet in gewohnt hoher Qualität das Video auf art-tv.ch.

Montag, 11. Juli 2011

Heilige Scheisse

Zunächst ein kleiner Tusch: Dies ist der zweihundertste Artikel auf Phemios Aoidos. Ta-daa! Ich bin selber vielleicht am meisten beeindruckt von diesem Output (wohl etwa soviel wie meine Lizarbeit und sämtliche Seminare zusammen, aber wesentlich lesbarer). Der zukünftige Herausgeber meiner gesammelten Werke wird richtig was zu tun haben.

Von der Selbstbeweihräucherung jetzt aber ganz schnell wieder zurück in den Freiburger Festivalsommer. Wie zur Bestätigung meines letzten Artikels, in dem ich das Belluard-Festival als Wundertüte charakterisiert hatte, erlebten wir drei Tage nach der mittelmässig überzeugenden Klanginstallation im Bollwerk einen spritzigen, vielschichtigen und tiefsinnigen Abend in der Ancienne Gare. Anlass: die Projektion des Filmes Chacun sa merde von Hugues Peyret.

Ein so respektloser Titel verlangt nach einer Erläuterung. Thema des Films ist das Kunstprojekt (ich nenns jetzt einmal so) Merda d’artista des italienischen Künstlers Piero Manzoni. Dieser produzierte 1961 neunzig kleine Konservendosen, nummeriert, signiert und mit einer Etikette versehen, auf der in vier Sprachen zu lesen ist:

Künstlerscheisse
Inhalt netto 30 g
Natürlich erhalten
Dosenprodukt Mai 1961

Manzoni setzte den Verkaufspreis seiner Dosen auf den Gegenwert ihres Gewichts in Gold fest. Nach dem frühen Tod des Künstlers, zwei Jahre nach der Dosenproduktion, im Alter von erst dreissig Jahren, begannen das Interesse an und die Nachfrage nach seinen Werken bald gewaltig zu steigen. Die Merda-Dosen wurden zu Stammgästen in Museen, Ausstellungen und auf Auktionen; ihr Preis entwickelte sich weitgehend parallel zu den Zyklen auf dem Kunstmarkt. In den Boomjahren gegen Ende des letzten Jahrtausends erreichte er den Wert von drei Kilo Gold; im Oktober 2008 ging eine Dose bei Sotheby’s gar für beinahe hunderttausend Pfund Sterling weg.

Wenn das erste Nasenrümpfen über die unflätige Idee mal durch ist, merkt man bald und unweigerlich, wie vielschichtig und facettenreich Manzonis Werk ist, welche Gedankenstränge es eröffnet, welche Assoziationen es auslöst. Meine erste, leicht verstörte Frage war: Verarscht der uns jetzt, oder ist das ernst? Ist das ein richtiges Kunstwerk, oder ein Kommentar zum Kunstbetrieb auf irgendeiner Meta-Ebene? Unzweifelhaft ist ihm letzteres überragend gelungen. Wie die Preiskurve der Dosen die Fieberkurve des internationalen Kunstbetriebs getreulich abbildet, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Gleichzeitig werden in den Gesprächen mit den Besitzern und Kuratoren andere Mechanismen des Kunstmarktes deutlich. Beispielsweise steigt der Wert einer Dose, wenn sie in einer renommierten Publikation abgebildet oder in einer wichtigen Ausstellung vertreten war. Ein italienischer Sammler kriegte sich kaum mehr ein vor Freude, dass seine Leihgabe ans Centre Pompidou in einer Fernseh-Dokumentation prominent zu sehen war: Beim Weiterverkauf wird er tüchtig Kasse machen! So trägt jeder aktuelle oder künftige Besitzer, jede Auktion, jede Ausstellung, ja eigentlich jede öffentliche Äusserung zum Gesamtkunstwerk Merda d’artista bei.

Man kann natürlich auch die weniger kommerziellen und mehr kunstgeschichtlichen Aspekte in den Blick nehmen. Dass die Künstlersignatur aus einem Alltagsobjekt ein Kunstwerk macht – darin zeigt sich Manzoni als origineller Nachfolger von Duchamp und seinen Ready-mades. Aber es ist eben nicht einfach ein gewöhnliches Alltagsobjekt, es ist wirklich und wahrhaftig sogar ein Stück vom Künstler selber. Ein ziemlich überdreht psychologisierender italienischer Sammler hatte schon Recht, als er den Vergleich mit Reliquien machte. Diesen Aspekt hat auch Manzoni selber betont, als er davon sprach, dass die Sammler immer am Intimen, Persönlichen des Künstlers interessiert sei, und dass er genau dies ihnen biete: seine höchstpersönlichen Ausscheidungen. Intimer geht nicht.

Unvermeidlich ist schliesslich die Ambivalenz aus Abscheu vor und Faszination an dem (angeblichen) Inhalt der Dose, den menschlichen Exkrementen. Fast scheint dies für die im Film porträtierten Personen die Kernfrage zu sein, was denn nun wirklich da drin ist. „Scheisse, steht ja drauf“ – so antworten viele, besonders die begeisterten Sammler. Kunsthistoriker und Familienmitglieder Manzonis hingegen zögern: Keine Ahnung, was der da tatsächlich reingepackt hat. Vielleicht hat er uns gleich doppelt verarscht, indem er Sand oder Kiesel eingefüllt hat? Augenzeugen wollen den Künstler mit Löffel und Eimer hantieren gesehen haben, aber die Berichte widersprechen sich. Wer an die Scheisse-Theorie glaubt, kann sich dann weiteren Ängsten hingeben: Ist das Zeug sicher? Besteht nicht Explosionsgefahr durch die chemischen Reaktionen in diesen Dosen? War das vielleicht gar Manzonis Absicht, dass in einigen Jahren in Sammlervitrinen in der ganzen Welt seine Werke in die Luft gehen? Solches ist bisher nicht passiert. Allerdings haben einige Dosen zu lecken begonnen und mussten restauriert werden. Die Analyse des austretenden Materials, immerhin, ergab: Exkremente. Und der Museumsdirektor präzisiert: Ob menschlich oder tierisch, konnte nicht festgestellt werden.

Hugues Peyret hat eigentlich nichts anderes getan, als möglichst viele der neunzig Dosen aufzuspüren (eine Heidenarbeit), einige ihrer Besitzer oder Aussteller zu besuchen und ihre Geschichte zu erzählen. Er hat sein Material souverän auf eine Stunde zusammengeschnitten und mit staubtrockenem Humor kommentiert. So hat er einen Film geschaffen, der seinem Gegenstand an Esprit und Vielschichtigkeit in nichts nachsteht, und damit reichlich Stoff zum vergnügten Lachen und anregenden Diskutieren.


Technisches: Chacun sa merde; suivi de la boite de merde. Deux films de Hugues Peyret. DVD, 2010. Ein Trailer zum Film ist auf Youtube zu finden.

Samstag, 2. Juli 2011

Klangraum Bollwerk

Zwar ist das frühsommerliche Freiburger Festival für Avantgarde-Kunst nach dem Bollwerk bzw. Belluard benannt, aber längst nicht alle Veranstaltungen finden in der mittelalterlichen Festung statt. Zweiter Hauptspielort ist seit einigen Jahren die Ancienne Gare, und darüber hinaus gebraucht das Festival immer auch unerwartete Orte in der ganzen Stadt als Bühne: öffentliche Plätze, leerstehende Geschäfte, ein abbruchreifes Haus oder gar Privatwohnungen. So habe ich zwar keine der letzten Ausgaben verpasst, aber das Bollwerk dennoch seit langem nicht mehr von innen gesehen. Bevor Entzugserscheinungen auftraten, galt es, dieses Versäumnis zu korrigieren. Und kaum ein Anlass wäre besser dazu geeignet gewesen als einer, der die einmalige Architektur des Belluard ausdrücklich einbezieht: Espèces d’espaces, eine Klanginstallation, speziell für den Ort geschrieben und mit zwölf Lautsprechern in den Innenhof und die Galerien der Festung projiziert.

Am letzten Dienstag kam ich also gegen viertel vor zehn im Quartier d’Alt an. Auf der Strasse und im angrenzenden Arsen’Alt brodelte die Festivalstimmung, unterstützt durch Küche und Bar, und es war an diesem heissesten Tag des Jahres immer noch feuchtwarm. Aus den meterdicken Mauern des Bollwerks strahlte hingegen eine wohltuende Frische. Die Stühle standen frei im ganzen Innenhof herum, auch auf der Bühne. Dorthin setzte ich mich und genoss den Blick auf die faszinierende Architektur. Innen am steinernen Hufeisen der Festung entlang ziehen sich nämlich zwei Stockwerke Galerien, mehrere Meter tief, von mächtigen Balkenkonstruktionen getragen und an ihren Stirnseiten chaletmässig mit Schindeln bedeckt. Auch an den Verbindungen des Hufeisens zur Stadtmauer hin hängen Holzverschläge. Ein Halbkreis Abendhimmel leuchtete in erdunkelndem Blau über den Dächern der Galerien; Scheinwerfer schälten einzelne Balken und Pfeiler aus der Dämmerung heraus.

Um zehn Uhr traten dann Antoine Chessex, Valerio Tricoli und Jérôme Noetinger an die Mischpulte und Computer in der Mitte des Hofes. Damit begann der weniger überzeugende Teil des Abends. Die anfänglichen Regen- und Donnerklänge wurden bald abgelöst von metallischen Tönen, von schriller Elektronik und magenmassierenden Bässen, teils auch von schierem Lärm. Mehrmals ritzte die einstündige Performance die Schmerzgrenze. Und freilich spielte die Klanginstallation mit dem Raum, lies Töne kreisen, lockte mal von vorne, mal von hinten – aber inwiefern dies ein Spiel, ein Dialog mit diesem konkreten Raum war, erschloss sich mir nicht. In einem Schuhschachtel-Konzertsaal wäre der Eindruck kaum anders gewesen. Sass ich zu exzentrisch? Hätte ich während der Performance herumgehen sollen? Auf jeden Fall habe ich die imaginäre Welt, die laut Programm im Labyrinth der Klänge hätte entstehen sollen, nicht erlebt.

So war für mich die Architektur der eigentliche Star des Abends. Und eine alte Erkenntnis hat sich bestätigt: Das Belluard-Festival ist eine radikale Wundertüte. Man liest das Programm, fühlt sich angesprochen vom einen oder anderen, was dort steht, aber weiss nie, was einen erwartet, bis mans gesehen hat: Einmal ist es eine absolute Sternstunde, das nächste Mal bleibt man ratlos zurück. Bitte nicht falsch verstehen: Ich beschwere mich nicht. Ein Festival, das Grenzen ausloten und ausgetretene Pfade vermeiden will, muss so sein. Dazu passt, dass das Belluard einen lediglich symbolischen Eintrittspreis verlangt. Probiert aus und kommt wieder, ist die Botschaft, erwartet nichts, lasst euch verstören, berühren, überraschen.


Technisches: Das diesjährige Belluard Bollwerk International schliesst heute abend seine Türen. Ich werde die nächstjährigen Termine so bald als möglich in meine Agenda schreiben, um nicht wieder im Vor-Ferien-Abschluss-Stress vom Festivalbeginn überrascht zu werden…

Freitag, 24. Juni 2011

Lesegenuss

Keinen der bald zweihundert Artikel auf diesem Blog habe ich so teuer bezahlt wie den letzten: Beim Fertigschreiben und Publizieren ist eine eigentlich schon überstanden geglaubte Halskehre erst so richtig losgegangen, die mich dann einen ordentlichen Teil der beiden folgenden Wochen unter Drogen ins Bett gezwungen hat. Erst heute wage ich mich – nach einer nun doch schadenfrei überlebten Arbeitswoche – wieder zu mehr als etwas Surfen und Fernsehen an den Computer. Dass ich ausgerechnet in den lichten Momenten dieser Zeit ein Buch mit dem Titel Geniessen gelesen habe, hat etwas von einem schlechten Witz. Aber man soll ja gerade dann besonders zu sich schauen, wenn es einem nicht so gut geht, und die Lektüre war tatsächlich ein Hochgenuss.

Soviel ist schnell gesagt. Etwas schwieriger ist es, das Buch präzise zu charakterisieren; denn es ist (passend zum Thema) eigentlich eine einzige grosse Aus- und Abschweifung. Der Autor Gero von Randow ist ein erfahrener Journalist, hauptsächlich im Wissenschaftsressort, aber auch in diversen leitenden Funktionen und seit 2008 als Korrespondent (in Frankreich, wo sonst); daneben hat er mehrere Bücher verfasst, darunter einen Bestseller zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Vor allem aber ist er ein überaus interessierter und kultivierter Mann. Seinem Buch zur Geschichte und Philosophie des Geniessens gibt er zwar äusserlich die Grobstruktur eines Festmenüs, warnt aber schon auf der ersten Seite vor den zahllosen Abschweifungen, die dem Leser bevorstehen. Und legt gleich los: Ein Gericht, ein Produkt, ja eine simple Redewendung ist ihm Anlass zu einem „apropos“, einem „übrigens“ – und kaum hat man sichs versehen, ist man mitten in einem Film, in einer Spezereihandlung, an einem Fürstenhof, in einem anderen Jahrhundert. Und alles ist durchsetzt von trefflichen, eigenen und geborgten geflügelten Worten sonder Zahl. Wer sich unter Geniessen aber eine simple Anekdotensammlung vorstellt, liegt dennoch falsch, denn man lernt etliches bei der Lektüre: die Geschichte der Kochkunst beispielsweise, oder kluge Überlegungen zur Ethik des Genusses. Von Randow bringt es fertig, ein beeindruckendes Wissen an den Mann und die Frau zu bringen, ohne besserwisserisch zu wirken. Sogar wenn er von einem ganz speziellen Bordeaux aus einem ganz bestimmten Jahr schwärmt, wirkt er nie wie ein Snob, vielmehr wie ein reiner Gourmet, der sich dermassen über eine Entdeckung freut, dass er sie mit der ganzen Welt teilen möchte.

Dieses Buch geniesst man wie ein Glas guten Weines. Es ist bibliophil gestaltet, in Leinen gebunden, meisterhaft gesetzt und mit Lesezeichen versehen. Und es ruft unaufdringlich, aber überzeugend die kulturelle und zivilisatorische Bedeutung des Genusses ins Gedächtnis zurück.


Technisches: Gero von Randow, Geniessen. Eine Ausschweifung. Hamburg, Hoffmann und Campe 2001. ISBN 3 455 11278 1.

Samstag, 4. Juni 2011

Traumorakel im stillen Tal

In der griechischen Mythologie bedaure ich am meisten die Seher. Sie sehen das Unheil, das sich aus eskalierender menschlicher Masslosigkeit aufbaut, furchterregend klar kommen, aber können nichts dagegen tun – und gehen oft auch selber daran zugrunde. Die trojanische Königstochter Kassandra ist das bekannteste, im Deutschen sprichwörtlich gewordene Beispiel. Vergleichbar erging es einem weniger bekannten Helden, dem Seher und Fürsten von Argos, Amphiaraos. Sein Verderben war der Feldzug gegen Theben, den Polyneikes, Sohn des Ödipus, gegen seinen Bruder Eteokles anstrengte. Adrastos, der König von Argos, sagte ihm seine Unterstützung zu und stellte ein Heer zusammen, angeführt von jenen sieben Helden, die in der Folge als die „Sieben gegen Theben“ bekannt wurden. Adrastos‘ Schwager Amphiaraos sollte ein Teilnehmer dieses Unterfangens sein, dessen tödlicher Ausgang für die meisten Beteiligten ihm bereits bekannt war. Deshalb versteckte er sich, um sich dem Untergang zu entziehen, wurde aber von seiner Frau Eriphyle verraten, die sein Versteck im Austausch gegen ein von Götterhand gefertigtes Halsband preisgab. So kam es, wie es kommen musste: Die Sieben zogen los, gelangten auf Umwegen, die hier nichts zur Sache tun, nach Theben, und liessen bis auf Adrastos alle ihr Leben vor den sieben Toren der Stadt. Ein besonderes Schicksal hingegen war für Amphiaraos reserviert: Als er verfolgt und dem Tode nahe war, öffnete sich auf Zeus‘ Geheiss die Erde vor ihm und verschluckte ihn samt seinem Gespann. Amphiaraos erhielt die Unsterblichkeit – und (gleichsam als ausgleichende Gerechtigkeit für sein übles Schicksal) als Kultort eines der schönsten, gewiss aber das lauschigste Heiligtum Griechenlands, das Amphiareion von Oropos, im äussersten Nordosten Attikas an der Grenze zu Böotien.

Das Amphiareion liegt im kleinen Tal eines Wildbaches, der nur gelegentlich Wasser führt. Bei unserem Besuch hörten wir ihn von unten rauschen, und blühende Bäume und Blumen verzierten die tiefgrüne Landschaft mit intensiv leuchtenden Farben. Die Gebäude des Heiligtums erstrecken sich dem Bach entlang das Tal hinunter: zunächst der Tempel des Heros Amphiaraos mit seinem Altar, dann eine Reihe von Statuenbasen, zuletzt die grosse Säulenhalle. Hinter ihr liegt ein kleines Theater. Die Sitzreihen sind durch die Jahrhunderte und Erdbeben fragmentiert und verformt, aber fünf grossartige Ehrensitze haben sich erhalten sowie das Proskenium, der Bühnenunterbau, der sich an die Rückwand der Stoa anlehnt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer befindet sich der profane Teil des Heiligtums, das kleine Dorf, das ihm angegliedert war; heute ein relativ unübersichtliches Ruinenfeld, aus dem eine gut erhaltene Klepsydra, eine Wasseruhr, heraussticht.

In der Antike herrschte hier ein reger Kultbetrieb, animiert von zahllosen Pilgern, die von Amphiaraos Heilung von Krankheit erbaten. Pausanias erklärt, wie das ging: Man brachte dem Hausherrn zunächst ein Opfer dar und legte sich danach in der Säulenhalle schlafen. Im Schlaf, genauer: im Traum erwartete man dann vom Heros den Hinweis darauf, wie die Heilung bewerkstelligt werden sollte. Inschriften und Weihgeschenke bezeugen die Dankbarkeit zahlloser Geheilter. Wer diesen friedlichen, wohltuenden Ort heute erlebt, hat keinen Anlass, an ihrem Wahrheitsgehalt zu zweifeln.


Technisches: Dass ich zuvor noch nie im Amphiareion war, liegt auch daran, dass dieses Heiligtum ohne eigenes Fahrzeug äusserst mühsam zu erreichen ist. Kein Zug, kein Bus führt den Interessierten in das stille Tal bei Oropos. Nach ausführlichem Studium der Lokalgeografie sowie der Regionalbuslinien hatte ich endlich gemeint, eine besonders schlaue Lösung gefunden zu haben. Wir nahmen den Bus nach Agioi Apostoloi und stiegen in Kalamos aus. Dort würde sich doch sicher ein Taxi für die drei Kilometer bis zum Amphiareion finden lassen, oder? Fehlanzeige. Im Dorfladen, im Kiosk und im Café beschied man uns einstimmig, es gäbe im Ort kein Taxi; und der üblicherweise nächststationierte Taxifahrer, den man freundlicherweise für uns anrief, war diesen Tag abwesend. Als wir schon dachten, wir müssten uns mit Plan B abfinden und zu Fuss zur archäologischen Stätte gelangen, anerbot sich ein freundlicher älterer Herr, uns mit seinem Auto hinzubringen. Dem Manne sei rückblickend noch einmal herzlich gedankt! Für den Rückweg rief uns der Aufseher dann ein Taxi nach Oropos, was eine sehr praktische Lösung war, aber den Ausflug schliesslich relativ teuer werden liess... Als Fazit gilt daher: Man kommt durchaus mit dem ÖV zum Amphiareion, wenn man anschliessend ein bisschen Fussmarsch nicht scheut. Am einfachsten, gut 3 Kilometer, ist es von Kalamos an der Linie Athen-Agioi Apostoloi. Mehr Busse fahren nach Oropos; wenn man den Chauffeur dazu bringt, am richtigen Ort, kurz vor Markopoulo, an der Abzweigung nach Kalamos anzuhalten, hat man von dort praktisch gleich weit. (Die Busse fahren von der Platia Aigyptou ab; nach Agioi Apostoloi vom Südrand, nach Oropos von der Nordostecke des Platzes.) Die Taxivariante ist natürlich, wie wir gezeigt haben, auch machbar; genügend Taxis (zudem viele Verpflegungsmöglichkeiten) finden sich im Hafen von Oropos; für die einfache Fahrt haben wir, wenn ich mich richtig erinnere, 18 Euro bezahlt. Praktischer ist man zweifellos im Mietauto unterwegs, was zudem den Vorteil hat, dass gleichentags auch andere archäologische Stätten wie Marathon und Rhamnous erreichbar sind. (Dazu ein Geheimtipp: Wer mit Metro oder Bus zum Flughafen fährt und dort einen Mietwagen nimmt, vermeidet die aktive Bekanntschaft mit dem Athener Verkehrschaos und ist sofort auf dem attischen Land.)

Die archäologische Stätte selber ist zu den üblichen Zeiten geöffnet, nämlich Dienstag bis Sonntag von 9 bis 15 Uhr. Eine Informationstafel gibt vor Ort eine relativ gute Übersicht über die Ruinen; wer weitergehend interessiert ist, kann zur Vertiefung auch den (nicht mehr ganz neuen) Führer von Vassilios Petrakos erstehen. An Online-Informationsquellen erwähnt seien die Kulturdatenbank des Tourismusministeriums (leider nur auf Griechisch) sowie die Wikipedia (wie für griechische archäologische Stätten üblich in der englischen Version besser und ausführlicher als in der deutschen).

Freitag, 27. Mai 2011

Nachtflüge

Auf den griechischen Journalisten Fotis Georgeles bin ich das erste Mal im Frühling 1999 in meinem Erasmus-Jahr in Athen aufmerksam geworden. Nördlich der Grenzen tobte der Kosovo-Krieg, und währenddem in Westeuropa die Rollen eindeutig besetzt waren – die Serben seit Jahren schon die Bösen, die Albaner die Armen –, war es in Griechenland genau umgekehrt: unbedingte Solidarität mit den serbisch-orthodoxen Glaubensbrüdern, zwischen Skepsis und Verachtung für die ungeliebten Albaner. In dieser Zeit, in der alle griechischen Medien rabiat auf die NATO eindroschen, stiess ich beim Zappen auf eine Diskussionssendung. Die rechtsnationalistische Journalistin Liana Kanelli vertrat mit Bestimmtheit die These vom westlichen Mord an den Orthodoxen. Ein mir unbekannter Reporter hielt dagegen: Fotis Georgeles. Er komme, sagte er, soeben aus dem Kosovo zurück, und wenn die Berichte über serbische Gräueltaten, die er dort gehört hatte, auch nur zum Teil stimmten, dann müsse man die herrschende Sicht der Dinge sehr kritisch hinterfragen. Soviel eigenständige Meinung imponierte mir. Ich fand heraus, dass Georgeles Chefredaktor der Lifestylepostille KLIK war, und von da an gehörte diese zu meiner monatlichen Lektüre. Man musste dort zwischen all dem Lifestyle gelegentlich etwas graben, fand aber dabei immer hervorragende Texte; so erinnere ich mich an ein kluges Interview mit dem eben ernannten Aussen- und heutigen Premierminister, dem (mindestens damals) unaufgeregten und gänzlich ideologiefreien Georgios Papandreou.

Das Highlight jedes Monats aber (und Grund genug, dass ich mir KLIK nachher noch ein Jahr lang in die Schweiz liefern liess) war das Editorial von Fotis Georgeles. Darin berichtete er fast immer über Alltägliches, kürzlich Erlebtes, häufig über Reisen oder Ausflüge – vordergründig. Dahinter versteckten sich jedes Mal hochpräzise Beobachtungen zur Gegenwart. 42 dieser Editorials und anderer Texte sind vor ein paar Jahren als Buch herausgekommen, unter dem Titel Νυχτερινές πτήσεις, „Nachtflüge“, aufgemacht also (wiederum vordergründig) als Sammlung von Reiseberichten. Die eigentlichen Berichte von Reisen in ferne Länder, nach Südamerika oder auf einsame Inseln im Pazifik, sind allerdings eher die schwächeren Partien des Buches – zu nahe sind sie mir am klassischen Reisejournalismus mit seinem Placenamedropping und seinem naheliegenden Erstaunen über die offensichtlichen Kontraste der Feriendestinationen zum heimischen Europa. Je näher er aber an zu Hause ist, und insbesondere in den Stücken über seine Heimatstadt Athen, desto mehr zeigt sich Georgeles in Hochform. Er erweist sich als sensibler Seismograf des urbanen Lebens, ausgestattet mit einem präzisen Blick, einem potenten analytischen Instrumentarium und einem breiten Reservoir an Erfahrungen, was Urbanität bedeutet und wie sie sich in verschiedenen Regionen äussert und interpretiert wird. Schonungslos seziert er die Lebensfeindlichkeit seiner Stadt, nicht ohne auch ihre Faszination, das allgegenwärtige und spontane Aufflackern von Leben, zu analysieren. Erhellend sind seine Gegenüberstellungen der griechischen Hauptstadt mit der anderen Stadt, die ihm am Herzen liegt, mit Paris – eine fast ideale Stadt, wenn man ihm Glauben schenkt, eine Stadt für die Menschen, nicht für die Autos, wie er kurz und desillusioniert schreibt. Ich finde freilich, dass ihm da öfters die Hassliebe des gebürtigen Atheners den Blick trübt, und würde ihm gelegentlich widersprechen, würde beispielsweise darauf hinweisen, dass gerade in Athen quasi im Jahresrhythmus neue Hotspots entstehen, wo rund um einen Platz und wenige Strassen wie in einem Treibhaus Bars und Cafés aus dem Boden schiessen. Aber das ändert nichts daran, dass Georgeles es versteht, mit wenigen Worten, mit knappen Beobachtungen und Vergleichen die Essenz dessen einzufangen, was Urbanität und städtisches Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmacht.

Das KLIK übrigens wurde vor längerem eingestellt (inzwischen existiert es, wie ich eben entdecke, wieder als Webzine). Fotis Georgeles hat dafür vor ein paar Jahren die Athens Voice gegründet, ein wöchentliches Gratisblatt für Athen. Auch da schreibt er ein Editorial, und das ist glücklicherweise online! Jedes Mal, wenn ich in Athen bin und eines der relativ gefragten Exemplare erhaschen kann, kriege ich glänzende Augen. Und gleichzeitig frage ich mich jedes Mal: Warum gibts sowas bei uns nicht? Warum gibts hier nur die Journalismussimulation von 20 Minuten, das Selbstschulterklopfen von Blick am Abend und den Teenie-Augenkrebs von 20 Minuten Friday? Athens Voice ist grossformatig und relativ dick. Das Titelblatt wird jede Woche von einem anderen Künstler gestaltet. Die Redaktion setzt intelligent und aufwendig Themen (aktuell beispielsweise ein Dossier zur Kultur in Zeiten der Krise); dazu kommen Satire, Kolumnen, Analysen zu Politik und Gesellschaft – kein investigativer Journalismus, gewiss, aber viel solider Lesestoff, souverän gestaltet, und zugleich ein umfangreicher Ausgangsführer mit den ganzen nützlichen Informationen zu Theater, Kino, Musik, Restaurants und Bars. Glücklich das Land, denke ich dann, das solche (und ähnliche) Gratisblätter hat; und es ist mir um die Griechen gleich ein bisschen weniger bange.


Technisches: Φώτης Γεωργελές: Νυχτερινές πτήσεις. Athen, Kedros 2008. ISBN 978 960 04 3854 3. Übersetzt ist das Buch scheinbar (noch) nicht worden.