Sonntag, 27. November 2011

Stochern im Nebel

Mein Italienisch reicht zum Überleben in Italien, für Smalltalk und gelegentliche Blog- und Zeitungs-Lektüre, aber für Literatur ist es an der Grenze. Ob es wirklich eine gute Idee war, als Ferienlesestoff La casa del comandante von Valerio Varesi mitzunehmen? Zwar erzeugt ein Krimi in der Regel den notwendigen Sog, damit ich dranbleibe – aber was, wenn ich gerade die entscheidenden Anspielungen und Details nicht verstehen würde? Die Angst erwies sich als unbegründet. Gewiss war die Lektüre ein dauerndes Tappen im Nebel, wo die Sichtweite wenige Meter beträgt und sich Häuser, Bäume und Personen nur schemenhaft abzeichnen; aber auf eine spezielle Weise war diese Art meines Verstehens ihrem Objekt angemessen. Varesis Commissario Soneri ist nämlich in Parma stationiert und ermittelt hauptsächlich in der Bassa padana, dem Landstrich entlang des Po und seiner Auen, der fast immer in zähen Nebel eingehüllt ist, wo skurrile Einzelgänger im Rhythmus des Flusses leben und dabei den Menschen aus dem Weg gehen, und wo Ressentiments aus den Partisanenkämpfen des Zweiten Weltkriegs noch nach Jahrzehnten schwelen, jederzeit bereit aufzulodern.

So irrten wir beide: ich im Italienischen und Soneri durch den Nebel der Bassa, im lange aussichtslosen Versuch, aus einer ganzen Serie von Verbrechen und Auffälligkeiten irgendwie schlau zu werden: ein osteuropäischer Fischer, im Pappelwald erschossen aufgefunden; ein Partisanenkommandant, in seinem Haus am Fluss einsam gestorben; eine Bancomat-Bande, welche die Dörfer heimsucht; irritierende Raser auf der Strasse und auf dem Fluss; das ganze gewürzt mit halbgaren politischen Theorien der frustrierten Jugend. Der Commissario ist wirklich nicht zu beneiden, denn jeder, den er trifft, weiss eindeutig mehr, als er sagt; dazu kommt das ständige Kompetenzgerangel mit den Carabinieri und zum Abrunden ein Chef, der nur seine eigenen simplen Theorien gelten lassen will. Jedes kleine Fortschrittchen muss Land und Leuten mühevoll abgerungen werden und trägt dennoch kaum zum Verständnis bei. So geht das in konsequenter Aussichtslosigkeit bis fast ans Ende: Ich habe noch kaum je einen Krimi gelesen, der so viele Mosaiksteinchen zu setzen vermochte, ohne dass auch nur in Umrissen ein Gesamtbild absehbar wurde. Erst mit den allerletzten paar Steinchen wachsen die Linien zusammen; der Schluss führt mit jäher Beschleunigung zu einer memorablen Konfrontation, in der Soneri nicht nur den Fall (besser: die Fälle) löst, sondern auch soweit möglich mit sich selbst einigermassen ins Reine kommt.

Nicht zu beneiden ist in all dem Chaos auch Soneris Freundin Angela, die ich im Nebelfluss noch lediglich als frivole Staffage kennengelernt hatte. Hier bekommt sie breiteren Raum, nimmt kräftiger Fleisch und Blut an, wird für Soneri zur wichtigen Helferin in den Ermittlungen und zum lebensretten Anker im Frust der erfolglosen Suche. Ihre grosse Beziehungsdiskussion kurz nach Beginn des Buches ist etwas gar schematisch philosophierend, aber im Ganzen tun die Szenen von gemeinsamem Hoffen und Verzweifeln, von Einsamkeit und Zärtlichkeit dem Buch gut. Sie lockern die Mühsal der Recherchen auf und sind ein Gegenpol zur omnipräsenten Melancholie und Verzweiflung.


Technisches: Valerio Varesi, La casa del comandante. Edizioni Frassinelli 2008. ISBN 978 88 88320 16 8. Im Gegensatz zu anderen Romanen Varesis ist dieser noch nicht auf Deutsch erschienen.

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