Samstag, 12. Mai 2012

Markus lesen

Beim silvesterlichen Spintisieren über das bevorstehende Jahr hatte ich unter anderem meine Idee festgehalten, mich zur Reaktivierung meiner Altgriechisch-Lesekompetenz mit dem Neuen Testament zu beschäftigen. Für einen einigermassen sanften Einstieg lag der Griff zum Markus-Evangelium nahe, dem kürzesten der vier (das übrigens zufällig gleichzeitig von meinem Bistum für dieses Jahr zur individuellen oder gemeinschaftlichen Lektüre vorgeschlagen wird). Es ist tatsächlich so: Bibelgriechisch ist für mich grosso modo noch immer zu bewältigen. Das liegt natürlich daran, dass die hellenistische Koiné auf der Komplexitätsskala näher beim Neugriechischen als bei Homer liegt, und zweifelsohne auch daran, dass die Inhalte zum grössten Teil vertraut sind. Ich kann aber nicht umhin, der iPhone-App youversion ein Kränzchen zu winden. Bibel-Apps für mobile Endgeräte gibt es zahlreiche, aber nur wenige ermöglichen es, in den unterschiedlichsten Sprachen gemeinfreie Versionen herunterzuladen und mit zwei Klicks zwischen diesen hin- und herzuschalten. So war bei kniffligen Stellen Hilfe nie fern, und da es mir weniger um die philologische Kleinarbeit als vielmehr um das flüssige Lesen ging, nahm ich diese auch rege in Anspruch.

Wer katholisch erzogen worden ist und lange Jahre allsonntags zur Kirche ging, für den hält die Evangelienlektüre kaum mehr Überraschungen bereit. In der kontinuierlichen Lektüre fällt aber doch das eine oder andere auf – zunächst die fast vollständige Absenz eines erkennbaren roten Fadens. Die Leistung des ersten Evangelisten Markus war es, wenn ich mich richtig erinnere, die zahllosen Episoden, Geschichten und Anekdoten aus dem Leben von Jesus zu sammeln und in eine Ordnung zu bringen, die sich in erster Linie an der Geografie orientiert. Markus geht mit knappen Sätzen und schnörkellosem Stil in medias res. Wörtlich tönt das so:
Beginn der Frohbotschaft Jesu Christi. Wie es geschrieben ist beim Propheten Jesaia: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Antlitz her, der dir den Weg bereiten wird. Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Strassen.“
– und ähnlich Schlag auf Schlag geht es weiter: Jesus lässt sich taufen, beruft Jünger, beginnt sein Wirken. Aus diesem Stakkato ragen wie überraschende Oasen einige Passagen durch ihren deutlich grösseren Umfang heraus. So bietet das vierte Kapitel die Etablierung des Lehrgleichnisses als Gattung der religiösen Verkündigung. Offensichtlich hatten die Zuhörer von Jesus, seine Jünger inbegriffen, zuerst mal keinen Schimmer, was die seltsame Geschichte bedeuten sollte, die er ihnen erzählte. Also beginnt er nochmals von vorne, geht geduldig jeden Satz mit ihnen durch und erläutert ihnen, was er ihnen mit den Bildern sagen wollte. Beim nächsten Mal geht’s dann schneller, und er kann die Ausdeutschung weglassen... Überdurchschnittlich viel Raum nimmt auch die wunderschöne Geschichte von der Heilung des Besessenen von Gerasa im fünften Kapitel ein, eine fast burleske Begegnung zwischen Jesus und jenem Dämonen, der sich mit dem unsterblichen Satz vorstellt: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele“, und sein Gegenüber in einen eigentlichen Dialog verwickelt. Und bei der Schilderung der Ereignisse vor der Passion entwickelt Markus plötzlich kriminologisches Talent: Die Beschaffung des Esels für den Einzug nach Jerusalem und die Bereitstellung des Raumes für das Passamahl werden als regelrechte kleine Thriller geschildert, in denen ein Voraustrupp mit bedeutungsschwangeren, präzisen Instruktionen auf die Expedition ins Unbekannte geschickt wird.

Was ich als Haupterkenntnis aus der Lektüre mitnehme, ist dies: Das Wirken von Jesus äussert sich am Anfang praktisch ausschliesslich in der diskreten Heilung von Kranken und Besessenen. Die konkrete Hilfe für Bedürftige im Verborgenen scheint der entscheidende Leistungsausweis eines Wanderpredigers zu sein, und weniger das Predigen. Erst mit der Zeit gewinnt dieses breiteren Raum, tritt gleichberechtigt neben das Handeln, führt vermehrt zu inhaltlichen Kontroversen mit den Repräsentanten der etablierten Religion und hin zum bekannten Ende.

Technisches: Bibliografische Angaben sollten sich dieses Mal wohl erübrigen...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen