Donnerstag, 23. August 2012

Mit Chrüüz und Fahne

Das Theater kennt den Weg vom Kopf in die Eingeweide. Was beim Studium blosse Zahl bleibt, was bei der Lektüre überlesen wird – im Spiel wird es erleb- und erfahrbar, und der Bauch versteht, was der Kopf bereits begriffen zu haben glaubte. Ich kann mir deshalb kaum einen besseren Weg vorstellen, einen historischen Gedenktag zu begehen, als das Erinnerte auf der Bühne aufleben und das Publikum von heute darin eintauchen zu lassen. Diese Idee hatten diesen Sommer die Freiämter, die zum dreihundertsten Jahrestag der Schlacht bei Villmergen am Ort des Geschehens ein Freilichttheater inszenierten. Vier lokale Theatergruppen spannten mit zahlreichen helfenden Händen zusammen, um anstelle von Reden und Denkmälern mit Körper- und Stimmeinsatz des markanten, traurigen Ereignisses zu gedenken: Mit Chrüüz und Fahne. Die Idee ist umso treffender, da es sich beim Zweiten Villmergerkrieg um den letzten konfessionellen Konflikt in der Schweizer Geschichte handelte. Dreihundert Jahre später hat hier nicht nur kaum jemand Krieg am eigenen Leib erlebt. Die wenigsten können auch nur ansatzweise emotional nachvollziehen, warum unsere Vorfahren bereit waren, für ihre Konfession gegen die Miteidgenossen in die Schlacht zu ziehen: welch Anachronismus in unserer säkularen postmodernen Gesellschaft.

Um diesen emotionalen Graben zu überwinden, greifen Autor Paul Steinmann und Regisseur Adrian Meyer in ihrem Stück über die Schlacht bei Villmergen zu einem Kunstgriff: Sie zeigen gerade nicht die Schlacht bei Villmergen, sondern eine Hochzeitsgesellschaft im Jahr 2012. Zunächst hat dies ganz unabhängig von allem Historiendrama den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass in dieser Situation reichlich komisches Potenzial steckt. Von der nervösen Wirtin über den nervigen Tafelmajor bis zu den schwerfälligen Tischreden lässt Steinmann denn auch kein Klischee aus. Das ist manchmal etwas gar naheliegend, erzeugt aber mit sicherer Regelmässigkeit Lachen und Schmunzeln und bewahrt den Abend vor Längen. Dann aber ist dies eine interkonfessionelle Hochzeitsfeier: Eine protestantische Zürcher Familie und eine katholische aus der Innerschweiz vermählen ihre Kinder. So sind die konfessionellen Gegensätze auf der Bühne präsent. Zu Beginn versichert man sich gegenseitig seine Modernität und erfreut sich an der Absenz jeglichen Problems; bald aber brechen Vorurteile und alte Wunden feine Risse in die festliche Oberfläche. Und gleichzeitig spielt sich auf der Naturbühne hinter der Bühne Seltsames ab, eine ganz andere, eigene Geschichte: Ein Reiter prescht den Hang hinauf, von jenseits der Krete tönt Geschützdonner, steigt Rauch empor; schemenhafte Körper stürzen herunter, bleiben leblos liegen. Hier tobt, ganz verhalten, aber unverkennbar, eine Schlacht; man merkt es auch im Säli bei der Vorspeise; die ersten werden unruhig, verlassen das Restaurant, wollen herausfinden, was hier los ist. Aber erst als ein Soldat schwer verwundet und mehr tot als lebendig mitten in das Hochzeitsmahl stürzt, fallen die beiden Geschichten abrupt ineinander und kommen zum Stillstand. Auf dem Hügel brennt ein Feuer, und über die Krete zieht, langsam und schwer, ein Trauerzug, intensives Schlussbild eines eindrücklichen Abends.

Aber damit habe ich noch gar nichts gesagt über die Präludien des Stücks, über die kurzen Szenen rund um das Schloss Hilfikon, die dem in acht Kompanien aufgeteilten Theatervolk prägnante Schlaglichter warfen auf die Zeit des Villmergerkrieges, auf den Krieg überhaupt: Das Aargauerlied wurde da als bitteres Antikriegslied inszeniert, Kapuziner und Pastor gaben sich in der Schlosskapelle mit Christus und Bibel gegenseitig aufs Dach, die moderne Kriegsberichterstattung wurde mit einer Tagesschau aus Villmergen spitz persifliert. Nicht erwähnt habe ich auch die Musik, von Christov Rolla geschrieben und von einem Blechensemble schräg und meisterhaft interpretiert: In bitterer Ironie spielten sie zum Hochzeitstanz Kriegslieder, ein jazziges Beresinalied, ein leichtfüssiges Bella Ciao. Und die kulinarische Einstimmung verdient zumindest einen Satz, im Besonderen jener ausgezeichnete Hackbraten, den wir als Stärkung vor dem Theater serviert bekamen. Solche Gesamtkunstwerke gibts, glaub ich, nur beim Volkstheater; wenn das ganze Dorf – was sage ich, das ganze Tal Hand anlegt, wenn man essen und trinken, gehen und sitzen, plaudern und staunen kann, wenn das Theater seine ureigenste Aufgabe erfüllt, wenn es Mitleid und Entsetzen erzeugt und man den Ort anders verlässt, als man angekommen ist.

Technisches: Mit Chrüüz und Fahne wird noch bis am 1. September beim Schloss Hilfikon gespielt; sämtliche noch geplanten Vorstellungen sind bereits ausverkauft, was schade ist für allfällige Interessenten, aber ein verdienter Triumph für das riesige Theaterteam.

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